Forced Evictions – zu einem Aspekt der Lage von Roma in Mittelost- und Südosteuropa

von Herbert Heuß
epa04823937 People look on as a structure is being demolished as the first illegal Roma buildings in Garmen, Bulgaria, 29 June 2015 are being taken down. Four buildings were demolished with an excavator while a frame building, before it was demolished, was voluntarily taken down by its owner and residents of the neighborhood. The demolition was ordered by authorities after a conflict between Bulgarian and Roma residents turned into protests, raising tensions between the groups. EPA/EMIL MIHAYLOV BULGARIA OUT +++(c) dpa - Bildfunk+++
Zwangsräumungen in Garmen, Bulgarien, am 29. Juni 2015.

Angesichts einer dramatischen europaweiten Flüchtlingssituation – die für sehr viele Menschen tödlich endet – und einer massiven Zunahme von fremdenfeindlicher Gewalt in Deutschland wird die Lage von Roma in Südosteuropa und insbesondere auf dem Balkan vorwiegend unter Aspekten einer sogenannten Armutsmigration und, noch immer, einer vorgeblichen Einwanderung in die deutschen Sozialsysteme diskutiert.  In der Folge kommt es zu rechtsextrem motivierten Angriffen, zunehmend auch auf Roma, wie zum Beispiel in Halle/Saale, wo die Mobile Opferberatung von einer Verdoppelung der Angriffe ausgeht und vor allen Dingen die Angriffe auf Roma als ein „relativ neues Phänomen“ wahrgenommen werden.[i]  Wer sich an die Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen 1992 erinnert, wo die katastrophale Unterbringung von Flüchtlingen aus Rumänien den Anlaß für pogromartige Ausschreitungen bot, wird das Phänomen nicht als gänzlich neu einordnen.  Ebensowenig neu sind die einschlägigen Parolen von Politikern unterschiedlicher Couleurs, die meinen, für die rechtspopulistischen Positionen von Pegida und anderen Gruppierungen Verständnis zeigen oder gar diese Parolen übernehmen zu müssen, um so Wähler aus dem rechten Spektrum an sich binden zu können.  Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma hat frühzeitig davor gewarnt, daß durch derartige politische Wendungen der Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit – und damit die rechtsextremistischen Gruppen – überhaupt erst hoffähig gemacht wurden und werden.

Es zeigt sich jedoch inzwischen auch, daß es in Deutschland eine ernstzunehmende Zivilgesellschaft gibt, die den Diskurs über Migration und Fluchtursachen in einer Weise führt, die in fast allen Parteien angekommen ist.  Hierzu zählen vor allen Dingen auch die Medien, die zunehmend über die Lage von Roma in Mittelost- und mehr noch in Südosteuropa berichten.  Die vielen Artikel von Journalisten, die vor Ort recherchiert haben, zeigen auf, daß die massive Diskriminierung der Roma eine der Hauptursachen für Armut und Perspektivlosigkeit für sehr große Teile der Romabevölkerung ist.  Diese Diskriminierung betrifft alle Roma, weitgehend unabhängig von ihrer Bildung oder sozialen Stellung.  Unter den Migranten sind gerade auch sehr viele gut qualifizierte Roma, die in Deutschland jedoch nur selten als Roma wahrgenommen werden, so daß sie hier die Chance wahrnehmen, eben nicht als „Zigeuner“ gesehen zu werden, sondern als Rumänen oder Bulgaren.  Ein Phänomen, das ebenfalls nicht neu ist: unter den Migranten, die in den 1970er Jahren aus Jugoslawien nach Deutschland kamen, war ebenfalls eine sehr hohe Zahl von Roma, die in Deutschland nicht als solche wahrgenommen wurden, und deren Kinder und Enkel heute selbstverständlich deutsche Staatsbürger sind, oft genug mit guter beruflicher oder akademischere Ausbildung.

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma hat in der Debatte um Zuwanderung und Asyl frühzeitig seine Position deutlich gemacht, daß nämlich zum einen das Recht auf politisches Asyl nicht angetastet werden darf und es im Einzelfall jeweils geprüft werden muß.  Vor allen Dingen dürfen Roma als Minderheit nicht benutzt werden, um das Asylrecht zu ändern.  Der Zentralrat hat gleichzeitig deutlich gemacht, daß das Asylrecht nicht das geeignete Instrument ist, um auf die desolate Situation von Roma in den Ländern Südosteuropas angemessen zu reagieren.[ii]  Es gibt massive Diskriminierungen und strukturelle Benachteiligungen von Roma in einer Vielzahl von Ländern, die als kumulative Fluchtursachen durchaus einen Flüchtlingsstatus begründen können und müssen, auch dies muß gegebenenfalls im Einzelfall geprüft werden.  Grundsätzlich müssen jedoch für Migration gerade aus den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und aus den potentiellen Beitrittsländern auf dem Westbalkan andere Wege des legalen Zuzugs und vor allen Dingen des Zugangs zum Arbeitsmarkt gefunden werden. Denn wie in vielfältigen Dokumentationen belegt, gehören Roma zu den am meisten benachteiligten und diskriminierten Gruppen in Europa.[iii]  Dies betrifft alle Bereiche des täglichen Lebens, vom Zugang zu Schule und Ausbildung, zu Wohnung und Arbeit bis zur Gesundheitsversorgung. Alle diese Bereiche sind von massiver Ausgrenzung und von Rassismus geprägt.

Serbien hat bereits eine Tradition gewaltsamer Vertreibungen, insbesondere aus den sogenannten informellen Siedlungen in Belgrad.[iv]  In Serbien z.B. gibt es 600 bis 650 „informelle Siedlungen“ in denen von hundert bis über tausend Menschen in Hütten ohne jede Infrastruktur leben. Die Familien haben dort in der Regel einen Raum in einer kaum heizbaren Hütte, ohne Wasser, Strom oder Kanalisation. Entsprechend ist der Zugang zu Schule, zu Arbeit, zu Gesundheitsversorgung extrem schwierig; die Sterblichkeit unter Kindern ist überproportional hoch, die Lebenserwartung generell deutlich niedriger als in der Gesamtbevölkerung. Im Raum Belgrad bestehen allein über 100 informelle Siedlungen.

In den meisten dieser Siedlungen leben Roma, die 1999 und 2000 vor dem Krieg und den Verfolgungen in Kosovo nach Serbien flohen und dort ohne jede weitere Versorgung sich behelfsmäßige Unterkünfte unter Brücken und auf Brachland bauten. Diese Siedlungen sind jetzt zum Teil ins Blickfeld von Stadtplanern gekommen, da auf dem Gelände Neubauten z.B. für Malls entstehen sollen.

Aktuell soll die Siedlung in Grmec, einem Belgrader Stadtteil, geräumt werden. Diese Zwangsräumung[v] soll erfolgen ohne daß den Bewohnern angemessene alternative Unterkünfte angeboten wurden.[vi]  Die Belgrader Menschenrechtsorganisation Lawyers Committee for Human Rights, YUCOM, hat deshalb die Stadtverwaltung vor dem Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg verklagt, um die Zerstörung der Wohnungen von dreiundfünfzig Familien zu verhindern bis angemessener Wohnraum zur Verfügung steht.[vii]  Es gab in Belgrad bereits zuvor eine Anzahl von solchen Zwangsumsiedlungen, verebunden mit der Zerstörung von Häusern, so 2013 im Stadtteil Belvil. Ein großer Teil der damals vertriebenen Familien, insgesamt etwa 1.000 Personen, wohnt noch immer unter desolaten Bedingungen in anderen informellen Siedlungen, während ein anderer Teil in Containern weit außerhalb des Zentrums und damit ohne Verdienstmöglichkeit untergebracht wurde. Die nicht in Belgrad registrierten Familien wurden in ihre vorherigen Wohnorte zurückgebracht, auch dort ohne weitere Versorgung.[viii]  Obwohl von der Europäischen Kommission 3,6 Millionen Euro für die Umsiedlung zur Verfügung gestellt worden waren, sind bis heute die betroffenen Menschen nicht mit angemessenem Wohnraum versorgt worden.

Wie diskriminierend die Haltung der Serbischen Regierung gegenüber Roma oftmals ist, zeigen die Äußerungen des damaligen serbischen Außenministers, Ivan Mirkic, im Zusammenhang mit seinem Besuch in Deutschland Mitte Dezember 2012. Mirkic machte in der deutschen Presse die serbischen Roma, die Bürger seines Landes sind, in zynischer Weise für ihre desolate Lebenssituation selbst verantwortlich, indem er erklärte: „Sie folgen nur ihrem eigenen Lebensstil … Es gibt Roma, die sich entschieden haben, so zu leben.“  Das war seine Antwort auf die Frage, warum so viele Roma in Bretterverschlägen ohne Heizmöglichkeit leben müssen. Der serbische Außenminister verschleierte damit bewußt die politischen Verantwortlichkeiten und bediente sich einer populistischen Argumentation, die Roma pauschal für die hohen Zahlen von Asylbewerberinnen und -bewerbern aus Serbien verantwortlich machen.  Gleichzeitig wird die Roma-Minderheit für die Verzögerungen in den Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union verantwortlich gemacht. Auf diese Weise werden systematisch Spannungen zwischen Mehrheit und Minderheit in Serbien geschürt unter der Gefahr, die Roma weiteren Diskriminierungen auszusetzen. Dies aber wird den Migrationsdruck in Serbien zweifellos noch mehr verstärken.

In Bulgarien hat es im Sommer dieses Jahres in der Kleinstadt Garmen ebenfalls eine Zerstörung von Häusern gegeben, die von der Stadtverwaltung angeordnet worden war.  Nach einer Auseinandersetzung zwischen Roma und der lokalen Bevölkerung hatten rechtsextreme Hooligans das Roma-Viertel belagert, und bulgarische Einwohner hatten mit Selbstjustiz gedroht. Vorgeworfen wurde den Roma, die in zum Teil nur halbfertigen Häusern wohnten, daß sie illegal auf Gemeindeland gebaut hätten, und daß sie auf Kosten der Gemeinde lebten. Die Roma-Siedlung in Garmen liegt außerhalb des Ortes, es gibt keine Wasser- oder Kanalisationsanschlüsse. Die Mehrzahl der Roma ist arbeitslos und ohne Perspektive, im Ort Arbeit zu finden. Insgesamt sollen in Garmen 124 von Roma bewohnte Häuser abgerissen werden, da sie illegal gebaut worden seien. Allerdings: dieses Gemeindeland war den Roma vor Jahren von einem damaligen Bürgermeister zugewiesen worden – vor lokalen Wahlen, und ohne entsprechende rechtliche Absicherung. Auch hier erfolgte die Zwangsräumung und Zerstörung der Häuser ohne daß alternativer Wohnraum zur Verfügung gestanden hätte, die Roma wurden sich selbst überlassen. Auch eine vorübergehende Unterkunft wurde nicht zur Verfügung gestellt. Diese Methode der Vertreibung ist inzwischen ein länderübergreifendes Phänomen geworden, ähnliche Vertreibungen gibt es in fast allen umliegenden Ländern, und die Zwangsvertreibungen werden immer dann in Szene gesetzt, wenn lokale oder nationale Wahlen anstehen und sich Politiker aus dem rechten und nationalistischen Spektrum gegen Roma profilieren wollen. Leidtragende sind die Romafamilien, die schutzlos diesem Rassismus ausgesetzt sind.[ix]

Das höchste Ungarische Gericht hat im Mai 2015 die Stadt Miskolc verurteilt wegen der systematischen Vertreibung von einigen hundert Roma aus der Stadt.  Mit der Begründung, es solle ein Fußballstadion gebaut werden, wurden die in Miskolc seit Jahrzehnten oder zum Teil seit Generationen ansäßigen Romafamilien aus ihren Wohnungen vertrieben, aus den leerstehenden Wohnungen ließ die Stadtverwaltung sofort Türen und Fenster ausbauen und die Wohnungen unbewohnbar machen. Ungarische Politiker der Fidesz-Partei erklären in aller Offenheit, daß der Abriß erfolge, um die Ghettos und Slums zu beseitigen. Die betroffenen Familien scheinen für die Politiker nicht zu existieren.  Hier wie an anderen Orten ist schwer zu unterscheiden, ob der offene Rassismus genutzt wird, um politischen Profit aus der Vertreibung der Roma zu schlagen, oder ob der Rassismus zum Selbstzweck geworden ist.

In Rumänien gab es im Sommer dieses Jahres in Cluj-Napoca eine Demonstration von mehreren hundert Roma und Unterstützern aus ganz Europa gegen die Vertreibung von 56 Romafamilien aus dem Zentrum von Cluj, fast 300 Personen, über 100 davon Kinder, die im Dezember 2010 stattfand.  Die Familien wurden nach Pata-Rat umgesiedelt, in Baracken, die unmittelbar neben der riesigen städtischen Müllhalde gelegen ist. Die Familien hatten zuvor über zwanzig Jahre in Cluj gelebt. Obwohl der Rumänische Rat zur Bekämpfung von Diskriminierung diese Aktion der Stadtverwaltung von Cluj als ethnische Diskriminierung einstufte und die Stadtverwaltung zu einer Strafe von 2.000 Euro (sic) verurteilte, sind die Familien auch fünf Jahre nach der Vertreibung noch immer den Giften und Gesundheitsgefahren der Müllhalde ausgeliefert und leben unter menschenunwürdigen Bedingungen.

In einer Studie des Bundesministers für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung aus dem Jahr 2013 unter dem Titel „Wieder erstarkte Städte“ heißt es nun, nicht notwendigerweise in diesem Zusammenhang, über Cluj: „Die Stadtentwicklung wurde überwiegend durch EU-Fördergelder finanziert.“  Und weiter, zu einer ähnlichen Entwicklung in der Stadt Bistrita: „Die Gebäude in der Innenstadt sind häufig von bedürftigen, meist obdachlosen Personen, mehrheitlich Roma, bewohnt und erschweren die Revitalisierung und die touristische Aufwertung der Innenstadt durch deren Stigmatisierung im öffentlichen Diskurs. Die geplante Umsiedlung der Roma in Sozialwohnungen am Stadtrand schreitet nur langsam voran. (…) Die Bereitstellung von Sozialwohnungen zur Fortsetzung des Plans zur Umsiedlung der Roma-Bevölkerung aus der Innenstadt in die peripheren Zonen der Stadt sind ein großes Problem für die Stadt, da die Umwandlung der Innenstadt in eine touristische Attraktion von hohem Wert ist“ (Interview mit einem Mitarbeiter der Verwaltung).“[x]

Die Vertreibungspolitik in einer Reihe von Städten in Mittelost- und Südosteuropa ist Ausdruck eines zunehmenden Rassismus und zunehmender Diskriminierung von Roma.   Die nunmehr seit Jahren andauernde Debatte über Zuwanderung aus den neuen EU-Mitgliedsländern und aus dem Westbalkan hat auch in diesen Herkunftsländern zu einer Verschärfung der Lage beigetragen. Roma werden als Argument vorgeschoben, um die wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten, sei es innerhalb oder außerhalb der EU zu erklären; Roma sind die ersten Schuldigen, auf die sich eine ansonsten in verschiedene Lager zersplitterte Gesellschaft einigen kann. Um so schwerer wiegt der Eindruck, daß die Vertreibungspolitik in zumindest einigen der betroffenen Städte möglicherweise im Rahmen einer Politik der Stadterneuerung und Modernisierung der Infrastruktur auch mit Hilfe europäischer Fördergelder finanziert wurde. Wie auch immer die Erfolge solcher Politik sich im Einzelfall darstellen, es scheint, als ob Roma hier erneut diejenigen sind, die den Preis dieser Modernisierung zu zahlen haben.[xi]

Das Recht auf Wohnen gehört zu den grundlegenden Menschenrechten. Seit über zwanzig Jahren, seit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten, sind große Teile der Romabevölkerung von diesem Recht ausgeschlossen.  Auch die jetzt zu Ende gehende Roma-Dekade hat keinerlei Erfolg gezeitigt, wenn es um grundlegende Verbesserungen für die Menschen vor Ort geht. Die 2011 von der Europäischen Union an die Mitgliedsstaaten kommunizierte Anforderung, nationale Strategien zur gleichberechtigten Teilhabe von Roma zu entwickeln und umzusetzen, zeigt vereinzelte Erfolge, jedoch ohne daß ein grundlegender Wandel in der Haltung der einzelnen Regierungen sichtbar geworden wäre.  Nach wie vor wird ein nur verschwindend geringer Teil der zur Verfügung stehenden Mittel des Europäischen Sozial- oder des Entwicklungsfonds von den Regierungen abgerufen. Die Ursachen dafür sind hinreichend bekannt. Zuallererst ist der Mangel an politischem Willen festzuhalten. Gleichzeitig fehlt es – auch wegen der Migration gerade der qualifizierten Angehörigen der Minderheit – in den jeweiligen Ländern an stabilen Strukturen auf Seiten der Roma. Es ist deshalb überfällig, daß auf europäischer Ebene endlich eine Einrichtung geschaffen wird, die Programme – insbesondere im Wohnbaubereich, aber wohlgemerkt nicht isoliert von Programmen zur Schaffung von Einkommen – zur Verbesserung der Lage von Roma durchführen kann, und zwar durch eigene Interventionen vor Ort, ohne auf die jeweiligen Bürokratien der einzelnen Staaten angewiesen zu sein. Solche Programme müssen langfristig angelegt sein, und sie müssen direkt von und mit Roma in den lokalen Gemeinschaften entwickelt werden. Neben der erforderlichen Partizipation hat dies den Vorteil, daß sich so an vielen Stellen die Möglichkeit bietet, ein Einkommen zu erzielen und sich so für den Arbeitsmarkt weiter zu qualifizieren. Wenn dies nicht geschieht, dann wird sich die Situation in den Herkunftsländern weiter verschärfen. Hierfür wird es erforderlich sein, dezidierte Strukturen aufzubauen, die die zur Verfügung stehenden Mittel auch ohne die direkte Beteiligung der jeweiligen Mitgliedsstaaten einsetzen können. Ein Beispiel dafür ist der Roma Education Funds im Bereich Bildung; ein ähnlich strukturierter Fonds für den Bereich Wohnen könnte, ausgestattet beispielsweise mit einem geringen Prozentsatz der nicht bei der Europäischen Kommission abgerufenen Mittel, direkt vor Ort programmatisch intervenieren. Obwohl grundsätzlich die meisten Roma-Organisationen darin übereinstimmen, daß die Verantwortung für die Verbesserung der Lebenssituation großer Teile der Roma-Bevölkerung bei den jeweiligen Regierungen liegen muß, ist inzwischen klargeworden, daß weder der politische Wille noch die tatsächlichen Möglichkeiten der einzelnen Länder ausreichen, um die in vielfältigen Strategien niedergelegten Initiativen tatsächlich umzusetzen. Die Initiative der Europäischen Kommission zur Festlegung nationaler Strategien zur Integration der Roma wurde deshalb vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma auch grundsätzlich begrüßt.  Sie ist für die jeweiligen nationalen Minderheiten der Roma vor allem in den neuen Mitgliedsländern der Europäischen Union von großer Bedeutung.  Es ist jedoch überfällig, daß an Stelle von papierreichen Strategien finanzielle Ressourcen eingesetzt werden, die gezielt die Wohn- und Einkommensmöglichkeiten vor Ort verbessern.

Um den bestehenden Problemen angemessen zu begegnen, müssen zudem in allen genannten Bereichen die Ressentiments der Mehrheitsbevölkerung gegenüber der Minderheit als ursächlich für deren Ausschluß mit in den Blick genommen werden. Die Ursachen für teilweise vorhandene schlechte Schulbildung liegen nämlich nicht allein in der mancherorts schlechten Wohnsituation oder in dem schlechten Einkommen vieler Familien, sondern sie liegen auch in der jahrhundertealten Ausgrenzung und dem bestehenden Rassismus gegenüber Sinti und Roma in Europa. Wenn die europäischen Strategien Erfolg haben sollen, dann müssen sie auch auf diesen in Teilen der Mehrheitsbevölkerung tief verankerten Rassismus zielen.


[i] Immer mehr rechtsextreme Straftaten, FAZ vom 09.07.2015.
[ii] Siehe z.B. Presseerklärung des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma zur Konferenz der Innenminister der Europäischen Union in Brüssel und zum Koalitionsvertrag vom 6. Dezember 2013; https://zentralrat.sintiundroma.de/content/downloads/presseschau/300.pdf.
[iii] Siehe beispielsweise die Untersuchungen der European Agency for Fundamental Rights (FRAU) aus dem Jahr 2014 – „Education: the situation of Roma in 11 EU Member States. Roma survey – Data in focus“; „Discrimination against and living conditions of Roma women in 11 EU Member States; Roma survey – Data in focus“ und P“overty and employment: the situation of Roma in 11 EU Member States; Roma survey – Data in focus“.
[iv] Siehe etwa den Bericht von Amnesty International aus dem Jahr 2010 : Serbia : Stop the forced evictions of Roma settlements.
[v] Als Zwangsräumung bedeutet, daß ohne rechtlichen Schutz und gegen den Willen der Betroffenen agiert wird; es stellt eine massive Verletzung derMEnschenrechte, insbesondere des Rechts auf angemessenes Wohnen.
[vi] Angemessene Unterkunft bedeutet nach der Habitat Agenda der Vereinten Nationen mehr als nur ein Dach, nämlich Schutz der Privatsphäre, ausreichend Wohnraum, Erreichbarkeit und Sicherheit, und vor allen Dingen Versorgung mit Anschlüssen an Strom, Wasser, Kanalisation, Müllabfuhr, Heizung usw.
[vii] http://www.balkaninsight.com/en/article/belgrade-roma-families-in-fear-of-eviction-08-13-2015.
[viii] http://www.errc.org/article/serbia-romani-families-face-uncertain-future-one-year-after-forced-eviction-of-belvil-informal-settlement/4135.  Zur Beteiligung der Europäischen Kommission siehe https://www.amnesty.org/en/latest/news/2015/04/serbia-forcibly-evicted-roma-still-awaiting-resettlement-despite-eu-millions/.
[ix] http://www.spiegel.de/politik/ausland/bulgarien-mobilmachung-gegen-roma-a-1041544.html.
[x] Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (2013): Wieder erstarkte Städte. Strategien, Rahmenbedingungen und Ansätze der Regenerierung in europäischen Groß- und Mittelstädten, Werkstatt: Praxis Heft 82, Berlin
[xi] Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma hat sich in Schreiben an den Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur sowie an die zuständigen Kommissare der Europäischen Kommission gewandt und um Aufklärung gebeten.  Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Artikels lag noch keine Antwort vor.

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