Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma trauert um die Holocaustüberlebende Krystyna Gil

Die Einweihung des Denkmals von Szczurowa am 8. Mai 1966 © Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma trauert um die Holocaustüberlebende Krystyna Gil, die am frühen Morgen des 1. April 2021 im Alter von 82 Jahren verstorben ist. Sie war über viele Jahre eng mit der Arbeit des Zentralrats und des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma verbunden.

Krystyna Gil wurde am 5. November 1938 als Krystyna Ciuron im polnischen Szczurowa geboren. Sie war noch kein Jahr alt, als die Wehrmacht am 1. September 1939 in Polen einfiel. Nach dem Überfall auf Polen begannen die Nationalsozialisten mit einer zielgerichteten Kampagne zur Auslöschung aller polnischen Roma. In den frühen Morgenstunden des 3. Juli 1943 wurde Gils Heimatort von einem Kommando unter deutscher Führung umstellt. Die in dem Ort lebenden Roma wurden aus ihren Häusern getrieben und auf einem nahe gelegenen Friedhof ermordet. Unter den 93 Ermordeten waren Krystyna Gils Eltern und ihre Geschwister. Sie selbst entkam in letzter Minute mit Hilfe ihrer Großmutter. Nach dem Krieg berichtete Krystyna Gil in einer vom Dokumentations- und Kulturzentrum erstellten Dokumentation über das Massaker:

„Die Männer sind zuerst auf den Friedhof gefahren und erschossen worden. Dann kamen sie zurück und haben Frauen und Kinder verladen. Auf diesem Wagen waren meine Mutter, mein zehnjähriger Bruder und meine zweijährige Schwester, meine Tante mit vier Kindern und zwei weitere Tanten. Und dann stieg meine Großmutter auf den Wagen und [einer der Täter] hat sie dann von dem Wagen weggeschubst, denn sie war eine Polin. Da hat meine Mutter mich aus dem Wagen gehoben und der Großmutter gegeben. Und sie sagte: Mutter, wenn du überlebst, wird sie dir wenigstens bleiben. Und mein Bruder wollte aus dem Wagen nicht runter, denn er war älter und schon klüger. Und sagte, dass wenn die Mama stürbe, wolle er mit ihr zusammen sterben. Dann haben sie die anderen zum Friedhof gefahren.“

Bis Kriegsende versteckten sich Gil und ihre Großmutter im Untergrund.

Als Erwachsene trat Krystyna Gil für die Rechte der polnischen Roma und das Gedenken an den Holocaust an den Sinti und Roma ein. Sie setzte sich unter anderem für die Errichtung eines Denkmals am Ort der Massenerschießung von Szczurowa ein, das am 8. Mai 1966 eingeweiht wurde. Es gilt heute als das erste Denkmal für die Opfer des Holocaust an den polnischen Roma. Seit 2014 erinnert außerdem eine Gedenktafel, die die Namen und das Alter der ermordeten Roma nennt, an die Geschehnisse vom 3. Juli 1943. Krystyna Gil hatte sich über Jahrzehnte für die namentliche Nennung der Opfer eingesetzt.

In den 1990er Jahren engagierte sie sich im Verband der Roma in Polen. Im Jahr 2000 gründete sie schließlich die erste Organisation für Roma-Frauen in Polen, deren Vorsitzende sie über viele Jahre hinweg blieb. Ein besonderes Anliegen war ihr die Arbeit mit jungen Menschen. In persönlichen Begegnungen mit Jugendlichen hat sie ihre Lebensgeschichte immer wieder, zuletzt noch 2019, geteilt. Sie nahm regelmäßig als Zeitzeugin an der vom Dokumentationszentrum und TernYpe organisierten Jugendgedenkfahrt Dikh He Na Bister teil, wo jedes Jahr im August hunderte Jugendliche aus ganz Europa im Gedenken an die Ermordung der letzten Sinti und Roma des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau am 2. August 1944 zusammenkommen. In ihrer zum 2. August 2020 digital aufgezeichneten Gedenkrede appellierte sie insbesondere an die Jugend:

„Ich möchte diese Botschaft an die jungen Leute richten: Respektiert einander, liebt einander, hasst einander nicht, denn das führt zu nichts Gutem, nur zu Schlechtem. Ihr seht, was in der Welt passiert, es gibt Kriege, es gibt Auseinandersetzungen, und ich wünschte, es gäbe keinen Krieg mehr, nie wieder, keine Waisenkinder mehr. Mögt ihr in Harmonie leben und einander lieben, liebt eure Eltern, liebt eure Familie, solange ihr sie habt, denn ihr wisst nicht, was es bedeutet, ohne Eltern aufzuwachsen. Wie ein Waisenkind war ich ein Kind, das sein ganzes Leben lang ungewollt war, herumgeschubst, erst nachdem ich geheiratet hatte, erst dann fühlte ich mich als freier Mensch.“

Der Vorsitzende des Zentralrats, Romani Rose, würdigte sie mit den Worten: „Ich habe Krystyna Gil immer bewundert. Trotz ihrer schrecklichen Erfahrungen hat sie immer wieder ihre Geschichte erzählt. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, als Zeitzeugin aufzuzeigen, wohin Rassenwahn und die Ideologie des Nationalsozialismus führen. Mit ihrem unermüdlichen Einsatz erwarb sie sich bei allen, die ihr begegnen durften, Respekt und Anerkennung. Mit großer Trauer nehmen wir nun Abschied von Krystyna Gil. Wir verlieren mit ihr eine ganz besondere Persönlichkeit. Wir werden ihr immer ein ehrendes Andenken bewahren.“

Das Dokumentationszentrum dokumentiert die Lebensgeschichte von Krystyna Gil und das Massaker von Szczurowa in seiner ständigen Ausstellung zum Holocaust an den Sinti und Roma in Heidelberg. Das Zeugnis, das sie abgelegt hat, wird seit vielen Jahren im Rahmen der dortigen pädagogisch-didaktischen Arbeit mit Schülergruppen und Studierenden verwendet.

Für ihren unermüdlichen Einsatz als eine der letzten Zeitzeuginnen erhielt Krystyna Gil im Jahr 2020 vom Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier die Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.

Weitere Informationen zu Krystyna Gil finden sie hier: https://romasinti.eu/#story/krystyna-gil

Hintergrundinformation:

Zwischen 1939 und 1945 wurden mehr als 500.000 Sinti und Roma im deutsch besetzten Europa ermordet. Einen der zentralen Schauplätze des Holocaust an den Sinti und Roma bildeten die deutsch besetzten Gebiete Polens, insbesondere das sogenannte Generalgouvernement. Allein für das Gebiet des Generalgouvernements sind 188 Erschießungsaktionen belegt, bei denen tausende Sinti und Roma ermordet wurden. Zudem ist von einer großen Zahl bisher unbekannter Massenerschießungen auszugehen. Das Massaker von Szczurowa steht damit für einen jahrzehntelang kaum beachteten Aspekt dieses beispiellosen Zivilisationsbruchs.