Verbandsklage
Die Individualklage als einziger Rechtsweg legt das finanzielle Risiko auf die Schultern der diskriminierten Klägerseite, welche zumeist gegenüber der Beklagtenseite strukturell unterlegen ist und / oder häufig gar in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihr steht. Der Zentralrat fordert die Verankerung des Verbandsklagerechts im AGG, damit Antidiskriminierungsverbände, Gewerkschaften, Betriebs- sowie Personalräte und Mitarbeitervertretungen über die bisherigen Möglichkeiten des AGG hinaus stellvertretend für die Betroffenen klagen können. Dies besteht derzeit nur für verletzte Individualpersonen und für Organisationen nur in den Ausnahmefällen, wo sie selbst unmittelbar in ihren Rechten angegriffen werden.
Expertenkommission Antiziganismus
Am 27. März 2019 berief der Bundesminister des Innern, Horst Seehofer, die Mitglieder der im Koalitionsvertrag vereinbarten unabhängigen Expertenkommission Antiziganismus. Die Expertenkommission soll neben einem Bericht zum Ende der Legislaturperiode konkrete Empfehlungen an die Bundesregierung geben, um sowohl die historische Dimension des Antiziganismus aufzuarbeiten als auch den gegenwärtig gegen Sinti und Roma gerichteten Rassismus zu bekämpfen. Hierzu gehört vorrangig die Dokumentation antiziganistisch motivierter Straftaten wie die Beobachtung von Antiziganismus in den Medien und dessen Auswirkungen auf die Einstellungen in der Bevölkerung. Insbesondere sollte die Kommission ihr Augenmerk auf Schule und Bildung richten, denn gerade in den Schulen gibt es kaum verlässliches und gut aufbereitetes Bildungsmaterial zum Thema Sinti und Roma.
Sinti und Roma sind immer wieder Benachteiligungen ausgesetzt und werden oftmals Opfer von Straftaten – von Beleidigungen und Bedrohungen bis hin zu gewalttätigen Übergriffen und Anschlägen. Eine konsequente Benennung und politische Verurteilung antiziganistischer Vorkommnisse Phänomene ist für eine Änderung des Bildes und der Haltung in der Gesellschaft unabdingbar. Trotzdem wird der Antiziganismus – anders als der Antisemitismus – bisher nicht durchgreifend als gesellschaftliches Problem erkannt und als solches bekämpft.
Rassistische Hetze im Internet
Im Schutz der Anonymität des Internets ist eine zunehmende Intensivierung verbalradikaler Äußerungen festzustellen. Hasskommentare in den sozialen Netzwerken, Hass-Seiten von Rechtsextremisten im Internet mit der Androhung von Gewalt und Mord gegen Sinti und Roma sowie der Handel mit entsprechender verbotener Hetzmusik und Accessoires haben in den letzten Jahren ständig zugenommen (siehe www.hass-im-netz.info). Dass die artikulierte Hetze in Taten mündet, wird durch die steigende Zahl von Anschlägen auf Asylbewerberunterkünfte in Deutschland belegt. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma fordert seit einiger Zeit die Einrichtung einer ständigen Arbeitsgruppe beim Justiz- und Innenministerium des Bundes. Dabei sollten weitere Behörden und Stellen wie jugendschutz.net sowie die großen Internet-Firmen (wie Google, Yahoo, eBay, Amazon u.a.) beteiligt werden. Mindestens einmal jährlich sollten dazu auch Vertreter des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, des Zentralrats der Juden und anderer betroffener Gruppen eingeladen werden, um die aktuelle Situation zu erörtern. Die Arbeitsgruppe soll neben einer Beobachtung der Entwicklung („Monitoring“) auch konkrete Vorschläge für eine verbesserte Bekämpfung von rassistischen und antisemitischen Gewaltaufrufen im Internet und volksverhetzender Inhalte auf Neonazi-Seiten unterbreiten.
Zahlen zu Rechtsextremismus im Netz veröffentlicht von Jugendschutz.net für die Jahre 2020 und 2021
Polizeibehörden: Aufarbeitung der Geschichte/Ausbildung
Nach dem überaus positiven Beispiel, dass das BKA mit der Aufarbeitung seiner Geschichte in den Gründerjahren der Bundesrepublik Deutschland und der Beteiligung ehemaliger NS-Täter gegeben hat, wäre es auch aus der Sicht des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma eine Notwendigkeit, dass die Polizeibehörden der Länder ihre entsprechende Geschichte aufarbeiteten. Die Kolloquien im BKA und wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass auch in der Bundesrepublik Deutschland gerade auf Länderebene – wie beispielsweise mit der Bayerischen Landfahrerzentrale im LKA München und den dort beschäftigten SS -Tätern aus dem Reichssicherheitshauptamt – systematischer und massiver Rassismus gegen Sinti und Roma betrieben worden ist. Eine solche Aufarbeitung dient nicht nur der besseren Wissensvermittlung für die jungen Polizeibeamten, sondern ist auch geeignet, diskriminierenden und klischeegeprägten Einstellungen entgegen zu wirken. Dadurch wird auch das Bewusstsein der Beamten für Demokratie und Rechtsstaat und eine vorurteilsfreie Begegnung mit den Angehörigen von Minderheiten gefördert. Zu diesem Zweck sollten ebenfalls nach dem Beispiel des BKA – auch von Seiten der Polizeiakademien der Länder – im Wege einer vereinbarten Regelung mit dem Dokumentations-und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma Informations- und Ausbildungseinheiten für die Abschlussjahrgänge der Ausbildung in den verschiedenen Dienststufen durchgeführt werden.
Polizei, Sicherheitsbehörden
„Professionelle Polizeiarbeit zeichnet sich heute – aus der Erfahrung unserer gemeinsamen Geschichte – durch eine konsequente Handlungs- und Verhaltensorientierung aus. Ausschließlich die Bewertung von Handlung und Verhalten am Maßstab des Strafrechts, losgelöst von der Person, deren Geschlecht, Religion, Gesinnung oder Ethnie dürfen im Fokus polizeilicher Arbeit stehen. Bevölkerungsgruppen dürfen nicht wegen ihres Geschlechtes, ihrer Religion oder ihrer Ethnie unter Generalverdacht gestellt werden. Wer anderen ihre Individualität und Selbstbestimmung bestreitet, spricht ihnen ihre Menschlichkeit ab.“ Jörg Ziercke, BKA-Präsident a.D.
Obwohl die Innenministerkonferenz sich im Dezember 2007 sich mit Regelungen zum Schutz nationaler Minderheiten vor Verwendung diskriminierender Minderheitenbezeichnungen durch Polizeibehörden eingehend befasst hat und viele Bundesländer den Empfehlungen der hierfür eingesetzten Projektgruppe folgend in ihren Leitlinien formuliert haben, weisen Polizeidienststellen in ihren Fahndungsaufrufen bzw. Pressemitteilungen immer noch explizit, aber auch verdeckt, auf die Zugehörigkeit von Tatverdächtigen zur Minderheit der Sinti und Roma hin. Rassistische Bilder über Sinti und Roma sind immer noch gesellschaftlich etabliert und auch heute noch verbreitet. Die Praxis der Minderheitenkennzeichnung und Fahndung nach „Sinti oder Roma“ dient nur dazu, in der Öffentlichkeit Vorurteile gegen die Minderheit der Sinti und Roma zu schüren. Kriminalität, so verwerflich sie auch ist, hat nichts mit der jeweiligen Herkunft der Täter zu tun. Gleiches gilt für Ersatzbezeichnungen oder Begriffe, unabhängig davon, ob sie tatsächlich oder subjektiv geeignet sind, einen Menschen, eine Ethnie, eine Volkszugehörigkeit oder eine Minderheit zu diskriminieren, zu stigmatisieren oder abzuqualifizieren. Diskriminierung durch Behörden, Ämter, Schulen und die Polizei sind besonders schwerwiegend, denn hier wirkt zusätzlich ein Macht- und Abhängigkeitsverhältnis. Deswegen verfolgt der Zentralrat den Ansatz, das Problem „an der Wurzel anzupacken“ und auf einen verbindlichen Beschluss in der Innenministerkonferenz hinzuwirken, wonach der Hinweis auf die Zugehörigkeit zu einer Minderheit in der internen und externen Berichterstattung nur zulässig sein soll, wenn er für das Verständnis eines Sachverhaltes oder für die Herstellung eines sachlichen Bezuges zwingend erforderlich ist.
Justiz
Die personelle Kontinuität von ehemaligen NS-Juristen spiegelte sich auch in den Entscheidungen der bundesrepublikanischen Justiz wider. Zum Beispiel hatte sich der Bundesgerichtshof in einem Grundsatzurteil aus dem Jahr 1956 mit der Verfolgung der Sinti und Roma in der Nazizeit befasst. Alle staatlichen Verfolgungsmaßnahmen vor 1943 seien legitim gewesen, weil sie von „Zigeunern“ durch „eigene Asozialität, Kriminalität und Wandertrieb“ selbst veranlasst gewesen seien. Eine wesentliche Passage aus dem Urteil: „Sie neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien, es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist.“ Diese Rechtsprechung prägte über viele Jahre das gesamte Entschädigungsrecht für die Überlebenden der Sinti und Roma und wurde zur Niederschlagung von Strafverfahren gegen die Organisatoren des Holocausts herangezogen. 1963 erkannte zwar der BGH in Abänderung des Unrechtsurteils von 1956 den Entschädigungsanspruch an, nahm aber nicht Abstand von der rassistischen Charakterisierung der Minderheit. Nach knapp 60 Jahren distanzierte sich BGH-Präsidentin Bettina Limperg im Rahmen ihres Besuchs des Zentralrats und Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma im März 2015 von diesem diskriminierenden Urteil. Sie sagte, man könne sich für dieses Urteil nur schämen. Es sei eine unvertretbare Rechtsprechung, die man auch nicht schönreden dürfe. Am 17. Februar 2016 fand im Foyer des Bundesgerichtshofs ein gemeinsames Symposium des Bundesgerichtshofs und des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma statt.
Medien
Medien haben die Aufgabe, die Öffentlichkeit zu informieren und Entscheidungsträgern die öffentliche Meinung kundzutun. Darüber hinaus wirken sie durch Kontrolle und Kritik an der Meinungsbildung mit. Den Medien als vierte Gewalt kommt eine Schlüsselfunktion in unserer Demokratie zu. Da sie an der freien, individuellen und öffentlichen Meinungsbildung mitwirken, indem sie zu Angelegenheiten von allgemeiner Bedeutung Nachrichten sowie Informationen beschaffen und verbreiten, prägen sie im Wesentlichen das Bild der Mehrheit von der Minderheit. Diskriminierende Berichterstattungen, die durch stigmatisierende Bebilderung und Off-Kommentaren dazu geeignet sind, bestehende Vorurteile zu reaktivieren und zu reproduzieren dürfen in einer vielfältigen Gesellschaft nicht hingenommen werden. Oftmals berichten
Medien über Sinti und Roma im Zusammenhang von Kriminalität, „Problemimmobilien“ oder „Sozialtourismus“. Die mediale Darstellung beeinflusst den Ton in der gesellschaftlichen wie auch politischen Debatte immens und jahrhundertealte Klischees etablieren sich zum „normalen“ gesellschaftlichen Bild. Der Zentralrat sucht deswegen das Gespräch zu den Medienvertretern und versucht eine journalistische Sensibilisierung zu erreichen. Er veranstaltet zudem regelmäßig Konferenzen, um die Frage des Schutzes vor Diskriminierung in Abwägung zur Pressefreiheit zu erörtern.
Die Ergebnisse der am 5. November 2009 im Auswärtigen Amt in Berlin in Kooperation mit dem Deutschen Presserat und der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgerichteten zweiten Medientagung wurden in der Schriftenreihe des Zentralrats veröffentlicht.
Diskriminierende Wahlkampfpraktiken
Mit offen rassistischer Hetze gegen Sinti und Roma ging die NPD in den Bundestagswahlkampf 2013. Flyer, Plakate, Aufkleber und Handzettel mit der menschenverachtenden Parole „Geld für die Oma statt für Sinti & Roma“ sollten Ressentiments gegen Angehörige der Sinti und Roma schüren. Das geschah auch in allen folgenden Wahlkämpfen zur Europawahl und zu den Landtagen tausendfach und bundesweit. Einige Bürgermeister waren bereit, aufgrund des volksverhetzenden Charakters dieser Wahlwerbung gegen die Plakatierung einzuschreiten, wurden aber von den Verwaltungsgerichten gezwungen, die Plakate wieder aufzuhängen. Neben der Schaffung von Rechtsgrundlagen für ein Verbot rassistischer Wahlwerbung fordert der Zentralrat die Diskussion über weitere Mittel, die zur effektiven Unterbindung beitragen. Im Jahr 2013 gab der Zentralrat eine Dokumentation zur rechtlichen Auseinandersetzungen über die diskriminierende Kampagne der NPD und verwandter Gruppen heraus.
2015 hat das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz ein Gutachten in Auftrag gegeben, das der Frage nachgehen soll, inwieweit das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (ICERD) der Vereinten Nationen herangezogen werden kann, um gegen rassistische Wahlwerbung vorzugehen. Das Gutachten wurde von Frau Prof. Stefanie Schmahl, Lehrstuhl für deutsches und ausländisches öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht, der Julius-Maximilians-Universität Würzburg erstellt. Es untersucht, ob und ggf. in welchem Umfang und mit welchen Konsequenzen insbesondere auf das ICERD, den ICCPR und die EMRK bei Auslegung und Anwendung der Tatbestandsmerkmale „öffentliche Sicherheit“ und „öffentliche Ordnung“ der polizeirechtlichen Generalklausel zurückgegriffen werden kann oder sogar muss.
Rechtsgutachten des BMJV über den Umgang mit rassistischen Wahlkampfplakaten der NPD