Die Kinder, kranken und alten Menschen hatten keine Chance zu überleben: In der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 wurden diese letzten 4300 Sinti und Roma im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau – trotz ihres erbitterten Widerstands – von der SS in die Gaskammern getrieben und ermordet. Zum 79. Jahrestag der Auflösung des Lagerabschnitts B II e hat heute mit Vizepräsidentin Nicola Beer erstmals eine hochrangige Repräsentantin des Europäischen Parlaments zum Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma am Ort des Menschheitsverbrechens gesprochen. Zu der zentralen Gedenkveranstaltung hatten der Zentralrat sowie das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma gemeinsam mit dem Verband der Roma in Polen in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau eingeladen, um an die 500.000 ermordeten Angehörigen der Minderheit im NS-besetzten Europa zu erinnern.
„Es ist unsere Pflicht und Verantwortung, uns zu erinnern. Es muss unsere gemeinsame Aufgabe sein, die nächsten Generationen über den Holocaust an den Sinti und Roma aufzuklären“, betonte Nicola Beer am Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma auf dem Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments fügte hinzu: „Zum Erinnern gehört auch, dass wir als Gesellschaft gegen jede Form von Diskriminierung und Rassismus kämpfen. Trotz jahrelanger Arbeit haben wir die Diskriminierung im heutigen Europa nicht beenden können: Antiziganismus ist nach wie vor eine weit verbreitete Form des Rassismus in unserer Gesellschaft.“ Die Vizepräsidentin rief das Europäische Parlament und die Mitgliedsstaaten zu einem verstärkten Einsatz gegen Antiziganismus und alle Formen von Rassismus auf.
Für die Sinti und Roma, die den Holocaust überlebten, sprach Gerda Pohl aus Bremerhaven. Sie wurde 1939 geboren und hat sich mit ihrer Familie vor der Deportation im Wald verstecken können. Die Sintezza erinnerte auch an das Schicksal ihres verstorbenen Mannes Horst Pohl, der mit Eltern und Geschwistern nach Auschwitz deportiert und durch pseudomedizinische Versuche misshandelt worden war.
„Auch nach dem Krieg mussten wir in Deutschland als Sinti viele Demütigungen erleiden. Und dieseErfahrungen haben – wie die NS-Zeit – mein späteres Leben dauerhaft geprägt“, schilderte sie. Eindringlich richtete sich Gerda Pohl in ihrer Ansprache auch direkt an die anwesenden Gäste: „Ich bitte Sie von ganzem Herzen, bekämpfen Sie den Rassismus, wo immer er Ihnen begegnet. Vor allem den jungen Menschen möchte ich zurufen: Ihr habt es in der Hand, wie die Zukunft von Deutschland, Europa und der ganzen Welt aussehen wird.“
Romani Rose, derVorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, warntein seiner Ansprache vor der zunehmenden Demokratiefeindlichkeit in Europa: „Mit großer Sorge beobachten wir in ganz Europa eine demokratiefeindliche Haltung und einen Rechtsextremismus, der sich wieder durch Gewalt gegen Sinti und Roma, gegen Juden und andere Minderheiten zeigt. Antiziganismus, Antisemitismus und Rassismus gehören in vielen Ländern Europas heute wieder zum Alltag.“ Doch es müsse der Anspruch der Europäischen Union und seiner Mitgliedsstaaten sein, den Antiziganismus genauso zu ächten wie den Antisemitismus. Der Zentralrat sieht es daher als einen positiven Umbruch und als wichtiges Signal des Rechtsstaats gegenüber den deutschen Sinti und Roma, dass das Bundeskriminalamt durch seinen Präsidenten Holger Münch am 27. Januar 2023 die Antiziganismus-Definition der Internationalen Allianz zur Holocaust-Erinnerung IHRA unterzeichnet hat. Auf dieser Basis ächtet das Bundeskriminalamt jede Form von Antiziganismus und wirkt diesem in seiner Behörde entschieden entgegen. „Ich appelliere heute von Auschwitz an alle Innenminister der deutschen Bundesländer, diesem Schritt zu folgen, die Unrechtsgeschichte der Polizei im NS-Staat und nach 1945 wissenschaftlich aufzuarbeiten und damit die rassistische und antiziganistische Sondererfassung und Kriminalisierung von Sinti und Roma durch die Polizei auf Grundlage der Abstammung endlich zu beenden“, forderte der Vorsitzende des Zentralrates.
Roman Kwiatkowski, Präsident des Verbands der Roma in Polen, nahm in seiner Rede auch Bezug auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. „Zum zweiten Mal, und möge es das letzte Mal sein, treffen wir uns in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau im Schatten eines nicht weit entfernt tobenden Krieges. Die Entschlossenheit der Verteidiger der Ukraine, einschließlich der dortigen Roma, hätte nicht ausgereicht, um der bewaffneten Macht der russischen Invasoren zu widerstehen, wenn es nicht die Solidarität der Völker und Regierungen der freien Welt gegeben hätte“, betonte Roman Kwiatkowski. „Die gegenwärtige Situation hat mit großer Eindringlichkeit gezeigt, wie groß die Notwendigkeit der Zusammenarbeit, der Ablehnung nationaler Egoismen und der Aufgabe von Partikularinteressen ist, wenn man verhindern will, dass Europa die tragische Erfahrung von vor 80 Jahren wiederholt“, ergänzte Roman Kwiatkowski.
Im Namen der internationalen Jugendgedenkveranstaltung „Dikh He Na Bister“ (Romanes, „Schau hin und vergiss nicht“) richtete sich Georgina Laboda persönlich an die Holocaust-Überlebenden: „Wir sind Ihnen zutiefst dankbar für Ihren Mut, Ihre Geschichten mit uns zu teilen. Sie haben uns die Augen geöffnet für das, was in der Vergangenheit geschehen ist. Ihr habt unseren Mut gestärkt, gegen Antiziganismus, Antisemitismus und alle Formen von Rassismus aufzustehen, denen wir als junge Roma und Sinti auch heute noch ausgesetzt sind.“
Bei den Gedenkveranstaltungen in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau nahmen zum ersten Mal auch mehrere für das Thema Antiziganismus zuständige Mitglieder des Deutschen Bundestages sowie Vertreter aus den Bundesländern teil. Damit waren sie der Einladung von Dr. Mehmet Daimagüler, dem Beauftragten der Bundesregierung gegen Antiziganismus und für das Leben der Sinti und Roma, und Doreen Denstädt, der Ministerin für Justiz und Landesbeauftragten gegen Antiziganismus des Landes Thüringen, gefolgt.
„Wenn wir in Auschwitz der 500.000 ermordeten Sinti und Roma Europas aufrichtig gedenken wollen, müssen wir den Antiziganismus, unter dem die Nachkommen bis heute leiden, entschlossen bekämpfen. Dazu bedarf es gesellschaftlicher wie staatlicher Entschlossenheit, im Bund wie in den Ländern“, machte Dr. Mehmet Daimagüler deutlich.
Zum Hintergrund:
Der 2. August wurde im Jahr 2015 vom Europäischen Parlament als Europäischer Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma anerkannt. Die jährliche internationale Gedenkveranstaltung in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau am 2. August wird vom Zentralrat und dem Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma sowie dem Verband der Roma in Polen in Zusammenarbeit mit dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau organisiert.
Neben Angehörigen der Minderheit der Sinti und Roma aus vielen Ländern, Repräsentanten des polnischen Staates, und anderer internationaler Institutionen und Organisationen, waren auch diesmal die Botschafter verschiedener Länder und weitere diplomatische Vertreter anwesend. Zusammen mit dem Internationalen Roma Jugendnetzwerk TERNYPE organisierte das Heidelberger Dokumentations- und Kulturzentrum zudem erneut in Krakau unter dem Titel „Dikh He Na Bister” („Schau hin und vergiss nicht“) eine mehrtägige Bildungsveranstaltung mit über 200 jungen Sinti und Roma sowie Nicht-Angehörigen der Minderheit aus ganz Europa, die auch an dem Gedenkakt teilgenommen haben.
Die Gedenkveranstaltung wurde live über die Website https://www.roma-sinti-holocaust-memorial-day.eu/ gestreamt. Das Video ist dort dauerhaft mit einem breiten Informationsangebot (DE/EN/PL/Romanes) zum Holocaust an der Minderheit verfügbar.