Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich begrüße Sie zu der heutigen sehr wichtigen Veranstaltung „Historische und gegenwärtige Dimensionen des Antiziganismus.
Die Auswirkungen des historischen Antiziganismus sind bis heute zu spüren. Wenn wir über den historischen Antiziganismus sprechen, müssen wir zuerst dessen extremste und radikalste Form, nämlich die Vernichtung von 500.000 Sinti und Roma im Holocaust, zum Zentrum des Nachdenkens machen.
Darüber hinaus dürfen wir auch nicht andere Formen des historischen Antiziganismus vergessen, wie beispielsweise die Versklavung der Roma im rumänischen Alt-Reich bis 1855/1856, die Zwangsmagyarisierung in Österreich-Ungarn mit der gewaltsamen Wegnahme von Kindern oder die kollektive Verhaftung von Roma in Spanien und die Deportation in die südamerikanischen Kolonien im 18. Jahrhundert.
Aber lassen Sie mich auf den ersten Punkt meiner Rede zurückkommen und über die systematische Entrechtung und Vernichtung im NS-Staat sprechen. Sie stellt einen tiefen Bruch in der Geschichte der Sinti und Roma in Deutschland und in ihren jeweiligen Heimatländern in Europa dar.
Während die Anerkennung der Shoah die Voraussetzung für die Wiederaufnahme Deutschlands in die internationale Staatengemeinschaft nach 1945 war, wurde das Verbrechen an unserer Minderheit verdrängt und geleugnet. Es fand weder eine politische noch eine juristische oder historische Aufarbeitung dieses Verbrechens statt. Erst in den 1980er Jahren gelang es der Bürgerrechtsbewegung in Deutschland, die Deutungsmacht der ehemaligen Täter zu brechen und dem rassistischen Blick unsere eigene Geschichte gegenüberzustellen.
Wenn wir heute an die NS-Verbrechen und den Holocaust erinnern, sollten sich gleichzeitig alle Menschen in Europa für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie einsetzen. Denn historisches Erinnern bedeutet immer auch gelebte Verantwortung für die Gegenwart.
So werden zum Beispiel vor dem Krieg geflüchtete Roma aus der Ukraine in vielen Aufnahmeländern der Europäischen Union nicht gleichbehandelt. Sie werden vielerorts in Sonderunterkünfte untergebracht, sie erhalten nicht immer die gleiche Versorgung wie andere Kriegsflüchtlinge, ihnen wird oftmals Hilfe verweigert, sowohl von Behörden als auch von ehrenamtlichen Helfern. Gelebte Verantwortung für die Gegenwart heißt auch, Gleichbehandlung für alle ukrainischen Geflüchteten zu fordern. Dieser Verantwortung müssen die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten, aber auch die jeweiligen Zivilgesellschaften gerecht werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Antiziganismus verhindert, wie wir wissen, die gleichberechtige Teilhabe von Sinti und Roma in den europäischen Gesellschaften. Die Ächtung des Antiziganismus ist nicht die Aufgabe der Minderheit selbst. Es ist die Aufgabe der Gesamtgesellschaft und ihrer Institutionen. Dies darf aufgrund der jahrhundertelangen Geschichte von Sinti und Roma in ihren Heimatländern von den jeweiligen Nationalstaaten nicht in Frage gestellt werden.
In den vergangenen Jahren gab es auf höchster politischer Ebene einige Initiativen, die den Antiziganismus in den Blick genommen haben. Auf gesamteuropäischer Ebene war das vor allem der im Herbst 2020 von der EU-Kommission angenommene Strategische Rahmen zur gleichberechtigten Teilhabe von Sinti und Roma. Damit wurde eine langjährige Forderung des Zentralrats umgesetzt. Dies möchten wir anerkennen und dafür danken. Der Zentralrat bewertet das als eine historische Chance, endlich die Ausgrenzung unserer Minderheit in Europa zu verurteilen und damit den jahrhundertealten Antiziganismus zu überwinden.
Wir wissen auch, wie sehr sich das Europaparlament für die Bekämpfung des Antiziganismus engagiert. Die Einführung des 2. August als Europäischer Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma ist ein Zeichen des Europäischen Parlaments gegenüber unserer Minderheit. Auch die aktuelle Roma-Woche ist ein Zeichen dieses wichtigen Engagements.
Die Demokratie in Europa, in der wir heute leben ist keine Selbstverständlichkeit. Antiziganismus, Antisemitismus und Rassismus zielen vordergründig auf Sinti und Roma, Juden und andere ab; tatsächlich stellen sie einen Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit unserer Demokratien dar. Aus diesem Grund muss der Antiziganismus genau wie der Antisemitismus in Europa endlich geächtet und konsequent bekämpft werden.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.