Zur aktuellen Situation der Roma in Ungarn

Erschienen in: Migration und Soziale Arbeit, Jg. 36 (2014), Nr. 2, S. 132-137. Von Jara Kehl

Die überwiegende Mehrheit der europäischen Roma lebt, seit Jahrhunderten schon, in den Ländern Mittel- und Südosteuropas. In Ungarn wurden Roma-Gruppen im 14. und 15. Jahrhundert heimisch und stellen heute die größte ethnische Minderheit. Ihre ursprüngliche Sprache, das Romanes, haben sie als Folge der gewaltsamen Assimilationspolitik der Habsburger in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Dupcsik 2009: 51-57) weitgehend aufgegeben und sprechen heute fast nur noch Ungarisch. Wenngleich seit den 1970-er Jahren der Anteil der in den Städten lebenden Roma stetig steigt, lebt die überwiegende Mehrheit nach wie vor in den ländlichen Gebieten, insbesondere in den nord-östlichen Komitaten Borsod-Abaúj-Zemplén und Szabolcs-Szatmár-Bereg.[1] Die Angaben über den zahlenmäßigen Anteil der Roma an der Gesamtbevölkerung variieren beträchtlich. Bei der letzten Volkszählung 2011 gaben rund 316.000 Menschen an, der Roma-Minderheit anzugehören. Diese Zahl liegt zwar deutlich über den Ergebnissen der Volkszählung von 2001, als sich nur 205.000 Menschen als Roma bekannten, jedoch weit unter amtlichen Schätzungen, die von mindestens 750.000 Personen und damit ca. 7 % der Gesamtbevölkerung ausgehen.[2]

Im Sozialismus

In der Zeit des Staatssozialismus wurden die Roma als eine „soziale“, nicht jedoch als ethnische Gruppe oder nationale Minderheit definiert. Die aus dieser Zuordnung abgeleitete Assimilierungspolitik prägte den staatlichen Umgang mit den Roma bis Mitte der 1980er Jahre (Stewart 2003: 210). Der Möglichkeit von Roma-Gruppen und -Individuen, ihr eigenes Selbstverständnis zum Ausdruck zu bringen und Einfluss auf den öffentlichen Diskurs zu nehmen, wurden staatlicherseits folglich enge Grenzen gesetzt. Erst 1985 erfolgte, nicht zuletzt als Ergebnis zunehmend organisierter Interessenvertretung durch Roma-Gruppierungen, die Anerkennung der Roma als ethnische Minderheit. Bis 1988 blieben sie jedoch weiterhin von der offiziellen Minderheitenpolitik ausgeschlossen.[3]

Vorrangiges Ziel der sozialistischen sogenannten „Zigeunerpolitik“ war die vollständige Integration der Roma in den Produktionsprozess, d.h. in die abhängige Beschäftigung. Dies wurde bis Ende der 1980er Jahre in weiten Teilen auch erreicht: Ende der 1980er Jahre waren 85% Prozent der männlichen Roma beschäftigt. Dass der gesellschaftliche Aufstieg trotzdem nur Wenigen gelang, lag an der im Hinblick auf die Roma-Minderheit desolaten sozialistischen Bildungspolitik, die die Roma systematisch von einem gleichberechtigten Zugang zu Bildung ausschloss. Nur wenige Roma verfügten über eine Berufs- oder Facharbeiterausbildung. Die meisten von ihnen waren als ungelernte Arbeiter am Bau oder in der staatlichen Industrie und den landwirtschaftlichen Kooperativen in den unteren Einkommensgruppen beschäftigt. Die mit dem Systemwechsel einhergehenden wirtschaftlichen Umwälzungen, wie die Schließung unrentabler Staatsbetriebe und die Auflösung des staatlichen Agrarsektors, trafen die Roma noch härter als die übrige Bevölkerung. Beim Übergang zur freien Marktwirtschaft waren sie unter den ersten, die ihre Arbeitsplätze verloren.

Die post-sozialistische Ära

Hinsichtlich ihrer politischen Anerkennung brachte der Systemwechsel den Roma zunächst eine Verbesserung. Mit dem 1993 vom Ungarischen Parlament verabschiedeten Gesetz zum Schutz nationaler und ethnischer Minderheiten (Nemzeti és etnikai kisebbségek jogairól szóló törvény) wurden Roma in Ungarn erstmals auch rechtlich als Minderheit anerkannt. Dem ungarischen Minderheitengesetz wird vielfach ein Modellcharakter bescheinigt (Mihok 1999: 66). Es orientiert sich an den Empfehlungen des internationalen Minderheitenschutzes und kennt sowohl individuelle als auch kollektive Minderheitenrechte. Dazu gehört u.a. das Prinzip der freien Identitätswahl, das Individualprinzip der kulturellen Autonomie, die Selbstverwaltung im Bereich Bildung und Kultur und der Anspruch auf staatliche Förderung (Kallai 2009: 28). Im Rahmen seines EU-Beitritts ratifizierte Ungarn zudem das „Gesetz zur Gleichbehandlung und Antidiskriminierung“. Eine Besonderheit im europäischen Vergleich stellt die Schaffung kommunaler Minderheitenselbstverwaltungen (Nemzetiségi Önkormányzatok) dar, die die jeweilige Minderheit auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene repräsentieren sollen. Deren wirksame Interessenvertretung wird jedoch durch zahlreiche Faktoren eingeschränkt. Schwierigkeiten gibt es insbesondere im Bereich der finanziellen Ausstattung. Zwar erhalten die Selbstverwaltungen Zuschüsse aus dem Staatshaushalt, diese sind jedoch so gering, dass insbesondere die Roma-Selbstverwaltungen, die über keine zusätzliche Unterstützung externer „Mutterländer“ verfügen, kaum Handlungsspielraum haben (Mihok 1999: 66).

Laut Verfassung haben die Minderheitenselbstverwaltungen primär ein kulturelles Mandat. Wie eine Untersuchung aus den Jahren 2000-2002 gezeigt hat, sehen die Selbstverwaltungen der Roma-Minderheit ihre Aufgabe jedoch weniger in der Wahrnehmung identitäts- und kulturpolitischer Aufgaben, als vielmehr in der Linderung sozialer und wirtschaftlicher Not der Roma vor Ort (Szuhay/Fleck 2013: 113-114). Wenngleich dies zwar einen Hinweis auf die nicht „mandatskonforme“ Tätigkeit der Minderheitenselbstverwaltungen darstellt, offenbart dieses Aufgabenverständnis zugleich auch das Versagen des staatlichen bzw. kommunalen Sozialsystems (Balázs/Majtényi 2012: 121).

Wie in den meisten ehemaligen Ostblockstaaten, lebt die Mehrheit der Roma auch in Ungarn unter äußerst prekären sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen, oft segregiert, ohne gleichberechtigten Zugang zu Bildung, Arbeit, menschenwürdigem Wohnraum und Gesundheitsversorgung. Ihre Ausgrenzung steht dabei in einem unmittelbaren Zusammenhang mit einem in Teilen der  Mehrheitsbevölkerung tiefverwurzelten Rassismus, der seit dem Systemwechsel ungehemmt zu Tage tritt und teilweise gewaltsame Formen annimmt. Das European Roma Rights Center (ERRC), eine in Ungarn ansässige Menschenrechtsorganisation, spricht für den Zeitraum von Januar 2008 bis September 2012 von 61 rassistisch motivierten  Übergriffen, die gegen Roma bzw. deren Eigentum gerichtet waren.[4] Das wahre Ausmaß sogenannter Hass-Verbrechen kann jedoch nicht eindeutig beziffert werden, da es in Ungarn dazu keine verlässlichen Statistiken gibt. Anders als etwa in Deutschland wird die Ahndung von Hasskriminalität im ungarischen Strafgesetzbuch zwar explizit geregelt. Ungarische NROs berichten aber über die Tendenz der Ermittlungsbehörden, Straftaten gegen Angehörige der Roma-Minderheit als „gewöhnliche“ Straftaten einzustufen. Eine mögliche rassistische Motivation der Täter findet dann als erschwerender Tatbestand entsprechend keinen Niederschlag in den  Urteilen und auch keinen Eingang in die Statistik.[5]

Besorgniserregend ist jedoch nicht nur die mangelnde Dokumentation und Aufklärung rassistisch motivierter Straftaten durch die ermittelnden Behörden, sondern die Rechtssprechungspraxis ungarischer Gerichte. Der sogenannte „Rassismus-Paragraph“ 174/B (wörtlich: „Gewalt gegen eine Gemeinschaft“) wurde von den Gerichten wiederholt statt zum Schutz der Minderheiten vor rassistisch motivierter Gewalt zum „Schutz der Mehrheitsgesellschaft“ vor Minderheiten angewandt.[6] Diese Rechtspraxis verkehrt in zynischer Weise den Sinn des § 174/B des Ungarischen Strafgesetzbuchs in sein Gegenteil. Eigentlich soll die Erhöhung des Strafmaßes bei rassistisch motivierten Straftaten den besseren Schutz von diskriminierten gesellschaftlichen Gruppen bewirken. Aladár Horváth, Leiter der Stiftung „Bürgerrechte für Roma“, spricht zu Recht von einer Umkehrung der Täter- und Opferrolle.[7]

Es fehlt in Ungarn also nicht an den rechtlichen Rahmenbedingungen zum Minderheitenschutz, sondern am nötigen (politischen) Willen zu ihrer Umsetzung. Hinzu kommt vielfach die mangelnde Kompetenz der Ermittlungsbeamten, rassistisch motivierte Straftaten zu erkennen und entsprechend aufzuklären. Notwendig wären diesbezügliche  Richtlinien und Fortbildungen für Polizisten und Ermittler.

Das wohl schlimmste Beispiel für ein Hass-Verbrechen gegen Angehörige der Roma-Minderheit war eine Mordserie, der in den Jahren 2008 und 2009 sechs Menschen zum Opfer gefallen sind. Es gab damals  keine  angemessene Reaktion der verantwortlichen Stellen auf die Mordserie. Die Opfer der Anschläge bzw. deren Hinterbliebenen waren völlig auf sich gestellt und erhielten weder materielle noch psychologische Unterstützung.  Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma startete daher 2009 eine internationale Solidaritätsaktion und baute gemeinsam mit dem Internationalen Bauorden und der ungarischen Roma-Organisation PHRALIPE in den Jahren 2010 bis 2012 mehrere der durch die Anschläge zerstörten Häuser wieder auf.[8] Die Aktion wurde schließlich auch durch die ungarische Regierung finanziell unterstützt. Bis heute warten die Hinterbliebenen der Mordopfer jedoch auf die Entschädigung, die der Staat unter anderem auf Grund seiner bereits 2009 eingeräumten Mitverantwortung am Ausmaß der Mordserie bis Ende 2013 zugesagt hatte.[9]

An dem oft feindlichen gesellschaftlichen Klima hat sich seitdem nichts geändert. Teile der politischen Elite schüren nach wie vor  Ressentiments gegen Roma und instrumentalisieren soziale Spannungen zwischen Mehrheit und Minderheit für ihre Zwecke. Die neo-faschistische Partei JOBBIK (ung. für „Die Rechtere“ bzw. „Die Bessere“), die bei den letzten Wahlen mit 17 % der abgegebenen Stimmen ins Parlament einziehen konnte, betreibt eine massive Hetze gegen Roma und gibt sich offen antisemitisch. Auch nach dem Verbot der „Ungarischen Garde“ – dem paramilitärischen Arm der JOBBIK – marschierten selbsternannte uniformierte Bürgerwehren durch Roma-Viertel in Ungarn und stellen offen das Gewaltmonopol des Staates in Frage. Die Regierung hat als Reaktion darauf das Versammlungsgesetz verschärft. Von den rechtlichen Möglichkeiten wird von Seiten der Gerichte jedoch kaum Gebrauch gemacht.

Die Situation wird dadurch verschärft, dass sich die Regierungspartei FIDESZ nur halbherzig von den rechtsextremen Parolen der JOBBIK distanziert und gegen rassistische Äußerungen über Roma in den eigenen Reihen nicht konsequent vorgeht. Dass die gezielte und kalkulierte Stigmatisierung der Roma auch im bürgerlichen Lager zunehmend salonfähig wird, manifestiert sich exemplarisch in Äußerungen wie denen von Zsolt Bayer, Mitbegründer der Regierungspartei FIDESZ. Bayer, der als enger Vertrauter von Ministerpräsident Orbán gilt, hatte in der regierungsnahen Zeitung „Magyar Hirlap“ vom 5. Januar 2013 die Angehörigen der Roma-Minderheit wörtlich als „Tiere“ bezeichnet, denen „keine Menschenwürde“ zukomme und die „nicht existieren“ sollten. Das müsse man „lösen, sofort und mit allen Mitteln“.[10] Während der ungarische Presserat Zsolt Bayer für dessen rassistische Veröffentlichung zu einer Geldstrafe verurteilt hat, gab die ungarische Regierung dazu bis heute keine offizielle Erklärung ab.

EU-Rahmenstrategie

Ungarn hat während seiner EU-Ratspräsidentschaft im April 2011 die sogenannte EU-Rahmenstrategie zur Verbesserung der Lage der Roma in Europa auf den Weg gebracht, die von den EU-Mitgliedsstaaten in sogenannte nationale Strategien umgesetzt wurde und bis zum Jahr 2020 in den Bereichen Bildung, Arbeit, Wohnen und Gesundheitsversorgung messbare Erfolge erzielen soll. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Verarmung von Teilen der ungarischen Gesellschaft – jeder Dritte  lebt unter der Armutsgrenze, 1,2 Millionen davon in extremer Armut – definiert die ungarischen Regierung ihre „Nationale Inklusionsstrategie“ (Nemzeti Társadalmi Felzárkozási Stratégia) als umfassendes Programm zur Bekämpfung von Armut und deren Folgen.[11] Roma werden als in diesem Rahmen besonders zu berücksichtigende Zielgruppe definiert: Nach amtlichen Schätzungen der Regierung gehören etwa 500.000 bis 600.000 Roma zu der in extremer Armut lebenden Gruppe der Bevölkerung.[12] Das Programm hat sich hohe Ziele gesetzt. Um den Zugang zum ersten Arbeitsmarkt zu erleichtern, soll jeder Angehörige der Roma-Minderheit mindestens die achtjährige Pflichtschule erfolgreich absolvieren, die Anzahl von Abiturienten, Studierenden und Fachhochschulabsolventen soll signifikant erhöht werden. Im Rahmen eines Vertrags mit der Landesselbstverwaltung der Roma (Országos Roma Önkormányzat) garantiert die Regierung bis 2015 die Schaffung von 100.000 Arbeitsplätzen für  Roma. Auch soll es Maßnahmen zur Verbesserung der Wohnsituation und der Gesundheitsversorgung geben.

Wichtig ist, dass nun auch der politische Wille gezeigt wird, die Strategie in konkrete Vorhaben vor Ort umzusetzen. Hier gibt es bisher große Defizite. In ihren Mitteilungen zur Umsetzung der EU-Roma-Strategie kritisiert die EU-Kommission insbesondere die mangelnde staatliche Zusammenarbeit mit Vertretern der Zivilgesellschaft und den regionalen und lokalen Behörden. Viele erfolgreiche Projekte auf lokaler Ebene, zum Beispiel im Bereich der Bildungsförderung oder der Schaffung von nachhaltigen Arbeitsplätzen, mussten bereits wegen mangelnder finanzieller Unterstützung ihre Arbeit einstellen oder sie Kämpfen um ihr Überleben.[13] Der Staat scheint im Bereich der Arbeitsmarktpolitik voll auf öffentliche Beschäftigungsprogramme zu setzen, die keine langfristige Perspektive bieten, da sie keinen Weg in den ersten Arbeitsmarkt weisen. Für ihre Umsetzung sind die Kommunen zuständig, die auch über die auszuführenden Tätigkeiten entscheiden. Wenngleich es positive, um Nachhaltigkeit bemühte Ansätze gibt (z.B. in der Gemeinde Kerecsend), wird aus vielen Gemeinden über sinnlose Arbeitseinsätze berichtet, die eher den Charakter von Disziplinarmaßnahmen haben. Die Bezahlung erfolgt unter dem in Ungarn geltenden gesetzlichen Mindestlohn und die Teilnehmer sind häufig der Willkür der lokalen Behörden ausgeliefert. Der ehemalige Ombudsmann für Minderheiten, Ernö Kállai, schreibt im Zusammenhang mit der Umsetzung des Beschäftigungsprogrammes von Verstößen „gegen die Menschenwürde“.[14]

Bereich Bildung

Die Maßnahmen im Bereich Bildung konzentrieren sich primär auf die Förderung von Eliten (u.a. Stipendien für Studierende, erleichterter Berufseinstieg, Einbeziehung von Roma in den Staatsdienst), das heißt auf die, die es bereits aus eigener Kraft „nach Oben“ geschafft haben. Diese Initiativen sind zu begrüßen. Wichtiger wäre jedoch, dass der Staat ohne Einschränkungen schon zu Beginn der Schullaufbahn den gleichberechtigten Zugang aller Roma-Kinder zu Bildung garantiert. Davon kann jedoch nicht die Rede sein. Trotz ihres gesetzlichen Verbots im Jahre 2003 ist die schulische Segregation von Romakindern weit verbreitet. Die Schüler werden dabei in so genannten, bereits im Staatssozialismus üblichen „Zigeuner-Klassen“ mit reduziertem Curriculum zusammengefasst, oder, häufig ohne entsprechende Indikation, in Sonderschulen für Lernbehinderte abgeschoben. Wenngleich diese Praxis von ungarischen Gerichten mehrfach als verfassungswidrig verurteilt und auch von der Europäischen Kommission  gerügt wurde, scheitert die integrierte Beschulung häufig am Widerstand der lokalen Behörden, Lehrer und Eltern aus der Mehrheitsgesellschaft.[15]

In einem Dokumentarfilm berichtet die zivile Rechtsschutzorganisation TASZ (Társaság a Szabadságjogokért) über den Ort Gyöngyöspata, der zum Sinnbild schulischer Segregation in Ungarn geworden ist. Gyöngyöspata war im März und April 2011 Schauplatz uniformierter Aufmärsche rechtsextremer „Bürgerwehren“ und wird seitdem von einem JOBBIK-Bürgermeister regiert. Der Film dokumentiert anhand von Zeugenaussagen und Videoaufnahmen, dass die Roma-Kinder gezielt in gesonderten Klassen zusammengefasst und auch räumlich getrennt von den anderen Schülern im Erdgeschoss der Schule untergebracht sind. Es existieren getrennte Waschräume, die Mahlzeiten werden getrennt eingenommen, die Roma-Kinder sind vom Schwimmunterricht und der Benutzung der Computerräume ausgeschlossen.[16] Am 6. Dezember 2012 urteilte das Landgericht Eger, dass in Gyöngyöspata rechtswidrig die Segregation von Roma-Kindern praktiziert werde. Die Gemeinde Gyöngyöspata und die Grundschule haben gegen das Urteil Berufung eingelegt.

Verschiedene, von der Regierung im Rahmen der Roma-Strategie aufgelegte Maßnahmen,  scheinen, unter dem Deckmantel der „individuellen Förderung“, zudem die weitere Segregation von Roma-Kindern zu befördern. So können sich Schulen um Fördergelder für spezielle Integrationsprogramme bewerben und richten dann – im Gegenzug –  spezifisch zu fördernde Roma-Klassen ein, um den Bedarf zu rechtfertigen.

Projekte mit deutscher Beteiligung

Insgesamt muss die bisherige Umsetzung der EU-Romastrategie in Ungarn verhalten beurteilt werden. Zur Verfügung stehende Gelder der Europäischen Union werden nicht abgerufen bzw. erreichen nur zu einem kleinen Teil die Roma-Gemeinschaften auf lokaler Ebene. Ein mangelnder politischer Wille kann insbesondere in der Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Partnern im In- und Ausland und bei der Unterstützung konkreter Projektvorhaben auf lokaler Ebene konstatiert werden. Als Beispiel dafür mag eine Erfahrung aus der eigenen Praxis dienen. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma  ist  primär als Interessenvertretung der deutschen Sinti und Roma konstituiert, unterstützt und realisiert aber auch konkrete Projekte im Ausland, die auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der Roma in ihren jeweiligen Heimatländern  zielen (z.B. Wohnbauprojekte in Rumänien, Ungarn und der Slowakei). Unter dem Titel „Minderheiten helfen Minderheiten“ hat der Zentralrat in Zusammenarbeit mit der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen (FUEV) 2013 ein Modellprojekt ausgearbeitet, das auf Einkommen schaffende Maßnahmen im Bereich der ökologischen Landwirtschaft in Verbindung mit der Vermittlung von Kenntnissen auf dem Gebiet der Heizwärmeerzeugung durch erneuerbare Energien zielt.[17]

Im Hinblick auf die unter der ungarischen Ratspräsidentschaft initiierte Roma-Strategie der Europäischen Union konzentriert sich das Pilotprojekt auf die Zusammenarbeit mit der ungarischen Regierung und Nichtregierungsorganisationen einschließlich der Roma-Organisationen vor Ort. Auf zivilgesellschaftlicher Ebene konnten hervorragend qualifizierte und engagierte Partner gewonnen werden, die Minderheitenselbstverwaltungen und Bürgermeister der zur Umsetzung des Pilotprojektes ausgewählten Gemeinden haben ihre Unterstützung zugesagt. Da die Umsetzung konkreter Projekte vor Ort im Rahmen der EU-Strategie ohne Unterstützung der jeweiligen Nationalstaaten nicht möglich ist, sagte die ungarische Regierung die Finanzierung im Rahmen der EU-Strukturförderung ab 2014 grundsätzlich zu. Dies sollte auf eine vertragliche Grundlage gestellt werden.  Diese Zusagen konnten jedoch bislang von den zuständigen Behörden nicht umgesetzt werden. Damit das Projekt fortgeführt werden kann, müssen die ungarischen Regierungsstellen jetzt unbedingt handeln. Die ungarische Regierung, die die Roma-Strategie auf den Weg gebracht hat, steht in der Pflicht, ihre Glaubwürdigkeit durch die Umsetzung konkreter Schritte unter Beweis zu stellen. 

[1] Vgl.:  http://www.mfa.gov.hu/NR/rdonlyres/7A11EDEB-3738-479A-BD36-5F248A041E68/0/Roma_de.pdf, S. 1.

[2] Vgl.: http://ec.europa.eu/justice/discrimination/files/roma_hungary_strategy_en.pdf, S. 6.

[3] Die anderen anerkannten Minderheiten durften Minderheitenverbände gründen, deren Aufgaben primär in der Organisation des Minderheitenschulwesens und der Kulturpflege bestand. Zudem hatten sie in minderheitenpolitischen Fragen Konsultativ- und Empfehlungsrecht. (Mihok 1999: 57).

[4] Vgl.: http://www.errc.org/cms/upload/file/attacks-list-in-hungary.pdf.

[5] Vgl.: http://www.amnesty.at/uploads/tx_amnesty/Violent_attacks_against_Roma_in_Hungary_report_web_02.pdf.

[6] Vgl.: http://tasz.hu/en/romaprogram/those-racist-roma-again.

[7] Vgl.: http://www.hirado.hu/Hirek/2010/10/29/17/_Halal_a_magyarokra__romakat_iteltek_el_kozosseg.aspx.

[8] https://zentralrat.sintiundroma.de/content/index.php?aID=43

[9] So hatten Geheimdienste wichtige Ermittlungsergebnisse nicht weitergegeben, an einzelnen Tatorten verwischte die Polizei Spuren und erst nach mehreren Anschlägen wurden die Ermittlungen zentralisiert.

[10] http://magyarhirlap.hu/ki-ne-legyen.

[11]http://ec.europa.eu/justice/discrimination/files/roma_hungary_strategy_en.pdf.

[12]Vgl.: http://ec.europa.eu/justice/discrimination/files/roma_hungary_strategy_en.pdf, S. 6.

[13] Als ein Beispiel sei hier das „Kiút-Programm” („Way-Out-Programme”) der Polgár-Stiftung genannt, ein auf zwei Jahre angelegtes Pilotprojekt zur Förderung von Existenzgründungen insbesondere von Roma.

[14] Eine englische Zusammenfassung des Berichts unter http://tasz.hu/en/news/report-gyongyospata-marks-final-goodbye-minority-ombudsman.

[15] Vgl.: http://www.cfcf.hu/en/about-us/mission-statment.html.

[16] http://tasz.hu/node/2593

[17]Für eine ausführliche Projektübersicht: https://www.fuen.org/fileadmin/user_upload/downloads/2013.07_Projektkonzeption_Roma_DE.pdf

Literatur

Dupcsik, Csaba (2009): A Magyarországi cigányság története . Budapest.

Kállai, Ernö (2005): Helyi cigány kisebbségi önkormányzatok. MTA Etnikai-nemzeti Kisebbségkutató Intézet, Budapest.

Koob, Andreas; Marcks, Holger;  Marsovszky Magdalena (2013): Mit Pfeil, Kreuz und Krone. Nationalismus und autoritäre Krisenbewältigung in Ungarn. Münster.

Majtényi, Balazs; Majtényi, György (2012): Cigánykérdés Magyarországon 1945-2010. Budapest.

Mihok, Brigitte (1999): Vergleichende Studie zur Situation der Minderheiten in Ungarn und Rumänien (1989-1996) unter besonderer Berücksichtigung der Roma. In: EthnienRegionenKonflikte. Soziologische und politologische Untersuchungen, Band 10, Frankfurt/Main.

Stewart, Michael (2003). Die Roma und der ungarische Kommunismus 1945-1989. Eine Fallstudie. In: Matras, Yaron u.a. (Hrsg.): Sinti, Roma. Gypsies. Sprache – Geschichte – Gegenwart. S. 189-231. Berlin.

Szuhay, Peter; Fleck, Gabor ( 2013): Kérdések és válaszok a cigányságrol. Budapest.