Kontext verfehlt: Eine Replik auf den Bericht über Bild-Chefredakteur Julian Reichelts Besuch im Dokumentationszentrum. Kontext vom 6.3.19

In der Wochenzeitung KONTEXT erschien am 6.3.19 ein Bericht „Bild“-Chef im Delirium über die Veranstaltung „Ethik und Moral im Boulevard ?“ mit BILD-Chefredakteur Julian Reichelt im Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma. Dazu schrieb Herbert Heuß, Moderator bei der Veranstaltung und Wissenschaftlicher Leiter beim Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, eine Erwiderung, die bei Kontext allerdings nicht an gleicher Stelle veröffentlicht wurde, sondern lediglich ziemlich versteckt im nächste Editorial. Die Erwiderung erscheint deshalb nochmals hier auf unserer Webseite. Die Redaktion von Kontext ist eingeladen, ihr Verständnis von Ethik und Moral in ihrem Kontext auch in Heidelberg vorzustellen.

Ein klassisches Merkmal sehr schlechten Journalismus ist es, wenn Berichterstattung und Meinungsmache vermischt, wenn Nachricht und Kommentar nicht sauber getrennt werden.  Ein gutes Beispiel solch Journalismus liefert M. Damolin im Kontext vom 6.3.2019 unter der Überschrift „Bild“-Chef im Delirium

Zunächst: in der Tat, der Moderator stellte sich nicht vor – ein kurzer Zwischenruf hätte mich auf diesen faux pas aufmerksam gemacht und das wäre es gewesen.  Statt dessen liefert M. Damolin meinen Namen im Artikel nach, allerdings mit unkorrekter Bezeichnung meiner beruflichen Position, soviel zu den kleinen Fehlern des täglichen Lebens.

Allerdings geht der Furor im Artikel dann erst richtig los, offenkundig hat M. Damolin kein Gespräch sondern mindestens ein Autodafé erwartet.  Daß Romani Rose den Chefredakteur von Bild, Julian Reichelt, zum Besuch des Dokumentationszentrums Deutscher Sinti und Roma und zu einem Gespräch einlud, geht offenbar über das Vorstellungsvermögen dieses Autors hinaus.  Der Furor vom Schmutz der „Bild“ gibt für M. Damolin die einzig richtige Richtung vor, nichts anderes ist in seinem von Wut geprägten und moralische Überlegenheit reklamierenden Artikel zulässig, nichts anderes wollte er wahrnehmen. Damit bedienen Kontext und M. Damolin im Grunde die gleichen Muster, die sie Bild vorwerfen: den Erwartungen der imaginierten Leser soll entsprochen werden, und M. Damolin tritt entsprechend als gewissermaßen para-liberaler Wutbürger auf, der gleichermaßen Bild wie die Anliegen des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma schreibend wieder in den Schmutz zurückbefördern will, wo sie seiner Meinung nach offenbar hingehören.

Daß er Romani Rose vorwirft, auf die 600-jährige Geschichte von Sinti und Roma in Deutschland und auf ihren Patriotismus als deutsche Bürger hinzuweisen, ist abstrus und zeugt vor allen Dingen davon, daß M. Damolin in hohem Maße geschichtsblind ist. Der Familie von Romani Rose wurde ihr Deutschsein abgesprochen, seine Angehörigen wurden als sogenannte Fremdrasse verfolgt, deportiert und ermordet – genau deshalb will Romani Rose sich von niemandem dieses Recht auf Heimat und auf seine Identität als Deutscher und als Sinto streitig machen lassen und er reklamiert dieses Recht immer wieder.  M. Damolin ist hier nicht nur in schlammigem sondern auch, vielleicht wider Willens, in rechtspopulistischem Fahrwasser unterwegs, es gibt sie wieder, die Vertreter eines homogenen, völkischen Deutschtums.

Daß Romani Rose die Gesprächsbereitschaft von Julian Reichelt positiv bewertet kommt nicht von ungefähr; die Chefredaktion des Spiegels zum Beispiel verweigert sich seit Jahr und Tag einem Gespräch.  Romani Rose prangert in der Tat auch immer wieder die gerade aktuell in vielen Medien wiederkehrende Kriminalisierung von Sinti und Roma an; dies ist nach Auffassung des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma eine der wesentlichen Ursachen für die hohe Ablehnung der Minderheit durch die Mehrheitsbevölkerung. Wenn M. Damolin dann hinterherfragt: Ethik und Moral im Journalismus? (mit Fragezeichen), dann heißt das offenkundig, daß der Vorwurf der Kriminalisierung von Sinti und Roma nichts mit Ethik und Moral zu tun habe, also wohl doch berechtigt sein könne. Sein Artikel zeigt seinen Überdruß, es sei genug mit den Vorwürfe des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma zu diesem Thema; er suggeriert, daß Diskriminierung, über die Romani Rose sich in Rage redet, nichts mit Ethik und Moral im Journalismus zu tun habe.

Bei alledem unterschlägt M. Damolin die Aussagen von Julian Reichelt, die für den Zentralrat Deutscher Sinti und Roma von Bedeutung sind. Axel Springer hatte 1967 für das Unternehmen Grundsätze verbindlich eingeführt, die u.a. festschrieben, daß Springer die Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen (später geändert in) das jüdische Volk und das Existenzrecht Israels unterstützt.  Julian Reichelt erklärte in Heidelberg, daß diese Unternehmensgrundsätze in gleicher Weise für Sinti und Roma gelten.  Daß auch die Rhein-Neckar-Zeitung in ihrem Bericht diese Aussage unterschlug, macht die Sache nicht besser.  Sie zeigt vielmehr, wie eng die Wahrnehmung wird, wenn Bild ausschließlich als Feindblatt gesehen wird. Damit trägt M. Damolin und Kontext zu einem Lagerdenken bei, dessen Auswirkungen wir in Ländern wie Ungarn sehen können: Gespräche zwischen den Lagern finden nicht mehr statt.  Das Dokumentationszentrum Deutscher Sinti und Roma wird allerdings weiterhin ein Ort des Dialogs bleiben.

Das von M. Damolin beigezogene Delirium wäre vielleicht, wenn er denn zu tief ins Glas geschaut hätte bei der Abfassung seines Artikel, eine Erklärung dafür, daß er unter der Meßlatte fürs journalistische Niveau, die Julian Reichelt vielleicht auch nicht ganz so hoch vorgelegt hat, so einfach durchrutschen konnte.

Herbert Heuß