Zuwanderung und Ausgrenzung – am Beispiel von Roma in Deutschland. Beitrag von Herbert Heuß

Beitrag für Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) Referat I 4 – Regionale Strukturpolitik und Städtebauförderung Informationen zur Raumentwicklung(IzR), Heftprospekt: Zuwanderung, Armut, Verantwortung 2019

Nach dem Beginn der Zuwanderungsdebatte war Politikern wie Medienvertretern frühzeitig klar, daß es zum einen keine „Armutszuwanderung“ gibt, denn die Zahlen derer, die in Deutschland Hilfen in Anspruch nahmen und nehmen sind gering im Vergleich zu denen, die in die deutschen Sozialsysteme einzahlen, und daß zum andern Roma[1] nicht überproportional an der Zuwanderung beteiligt waren, sondern entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil in den jeweiligen Herkunftsländern. Obwohl führende Politiker zwar regelmäßig vor einer „Armutszuwanderung“ und der „bevorstehenden Ausbeutung unserer Sozialsysteme“ warnten, vermieden sie gleichwohl, Roma direkte zu nennen.  Diese Verbindung wurde aber in den Medien sofort hergestellt, das wohl kalkulierte Wiederaufrufen alter Feindbilder funktionierte problemlos.  In der Regel genügte ein kleiner Nebensatz, um auch in sonst sehr genau berichtenden Printmedien die Botschaft unterzubringen.  So hieß es etwa in der FAZ vom 26.5.2013 unter dem Stichwort ‚Armutszuwanderung‘:

„In Deutschland und anderen Mitgliedstaaten klagen viele Kommunen über einen Zustrom von Bürgern aus Rumänien und Bulgarien, die es anscheinend nur auf Sozialleistungen abgesehen haben. Oft handelt es sich um Roma. [Hervorhebung HH.] Friedrich hatte deshalb zusammen mit seinen Ministerkollegen aus Großbritannien, den Niederlanden und Österreich einen Brief an die irische EU-Präsidentschaft geschrieben, in dem Gegenmaßnahmen gefordert wurden.“

In ähnlicher wurde ein Zusammenhang zwischen Armut, Zuwanderung und Roma konstruiert, der bewußt die Ausgrenzung der gesamten Minderheit in Kauf nahm.  Dabei wurde keinerlei Unterschied gemacht zwischen den Angehörigen der alteingesessenen deutschen Sinti, die seit über sechshundert Jahren im deutschen Sprachraum leben, und Migranten, die aktuell aus den neuen EU-Mitgliedsländern oder aus Drittstaaten nach Deutschland kamen.

Die nunmehr seit einem Jahr geführte Diskussion hat hie und da hysterische Züge angenommen; auf Äußerungen der Europäischen Kommission, daß der Zuzug von Menschen aus Rumänien und Bulgarien keine Belastung für die Sozialsysteme der Zielländer darstelle, reagierte deutsche Politik mit den Vorwürfen der „unverschämten Realitätsverweigerung“ und „Frivolität erster Güte“. Dem widersprach zuletzt bei einer Fachtagung des vom Bundesminister des Innern eingerichteten „Forums gegen Rassismus“ Herbert Brücker, Wirtschaftsprofessor an der Universität Bamberg, der eine entsprechende Studie für die Bertelsmann-Stiftung erstellt hatte.[2] Brücker wies darauf hin, daß Deutschland die Einwanderung vielmehr für seine Qualität als Wirtschaftsstandort und vor allem aus demographischen Gründen brauche. Inzwischen warnte der Präsident des Deutschen Städtetages, Ulrich Maly, vor „apokalyptischen Visionen“ und wies deutlich darauf hin, daß zum einen die deutschen Städte Freizügigkeit brauchten, und es zum zweiten keinen „Sozialtourismus“ gebe. Der Caritasverband stellt – mit Bezug auf eine Reihe von Fachinstituten – fest, daß „der Vorwurf, derzeit wanderten Bulgaren und Rumänen in erheblicher Zahl zu, um hier mißbräuchlich Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen, (sich) mit Zahlen nicht belegen läßt“  und führt weiter aus, daß es keine belastbaren Belege gebe, die zeigten, daß niedrig qualifizierte EU-Bürger vom deutschen Sozialsystem angezogen würden. Vielmehr sei es so, daß es in Deutschland einen Arbeitskräftebedarf auch im Niedriglohnsektor gebe. Und selbstverständlich haben Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten, einen Rechtsanspruch auf ergänzende Leistungen entsprechend den Sozialgesetzen. Nachdem in einer Reihe von Studien und Stellungsnahmen festgestellt wurde, daß der Beitrag von Zuwanderern nicht nur für den Wirtschaftsstandort Deutschland unabdingbar ist, sondern ebenso für die Finanzierung des Sozialsystems, sind Forderungen nach Einschränkung der Freizügigkeit nicht haltbar.[3] 

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma wandte sich deshalb frühzeitig und deutlich gegen die populistischen Tendenzen auch in den Aussagen von verantwortlichen Politikern. Romani Rose kritisierte seinerzeit das Auftreten Deutschlands beim Treffen der EU-Innenminister in Brüssel;  der deutsche Innenminister Friedrich schüre hier wider besseres Wissen populistische Tendenzen, wenn er vor einer angeblichen „Armutszuwanderung“ warne, die die deutschen Sozialsysteme mißbrauchen würde.[4] Diese Tendenzen wurden im Bundestagswahlkampf von der NPD aufgenommen. Bundesweit wurden Sinti und Roma einer Hetzkampagne ausgesetzt und durch Plakate („Geld für die Oma statt für Sinti und Roma“) und Flugblätter („Zigeunerflut stoppen!“) mit der Abbildung von Waffen wie Pistolen und Messern bedroht, ausgegrenzt und diffamiert. Es handelte sich um eine nachhaltige Aktion gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma hatte in den letzten Wochen vor der Wahl Hunderte von Anrufen besorgter Sinti- und Roma-Familien aus ganz Deutschland erhalten. Sie waren vor allem wegen der entsprechenden NPD-Plakate, die auf den Schulwegen ihrer Kinder gerade in den kleineren Orten massiv vorhanden waren, emotional aufgebracht und sehr betroffen. Diese öffentliche Aufhetzung durch die NPD  löste zudem bei älteren Menschen, die den Holocaust überlebten, wieder massive Ängste aus.

Zuwanderungen gibt es aus sehr vielen Ländern nach Deutschland und Westeuropa. Im Jahr 2012 betrug die Nettozuwanderung 369.000 Menschen, die meisten aus Polen, aber ebenso auch aus vielen der neuen Mitgliedsländer und aus den Ländern, die von der Finanzkrise besonders betroffen sind. Was die Migration aus Rumänien und Bulgarien anbetrifft, so handelt es sich dabei nicht allein um  Roma. Aus Rumänien sind in den letzten Jahren 3,6 Millionen Menschen ausgewandert – bei einer Bevölkerung von früher knapp 22 Millionen. Alleine in Italien und Spanien lebten 2012 annähernd zwei Millionen Rumänen. Für Bulgarien gilt ähnliches, von früher über acht Millionen Menschen sind annähernd eine Million ausgewandert. Die Migrationen aus diesen beiden Ländern betrifft alle Schichten der Bevölkerung, insbesondere aber jene, die vor allem in den ländlichen Regionen keinerlei Zukunftsperspektiven besitzen. Der Anteil von Roma an diesen Migrationen entspricht nach Schätzungen des Zentralrates etwa deren Bevölkerungsanteil in diesen Ländern.

Es darf jedoch nicht vergessen werden, daß diese Migrationen politisch gewollt waren. Mit der EU-Erweiterung sollten ausdrücklich Arbeitskräfte, und zwar auch weniger qualifizierte, nach Westeuropa kommen können.  Deutschland hatte zwar den Arbeitsmarkt für jeweils für mehrere Jahre gesperrt, so wird es die Freizügigkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Bulgarien und Rumänien erst von 2014 an geben.  Andere EU-Länder haben den Zugang zum Arbeitsmarkt jedoch schon sehr viel früher, zum Teil mit dem Beitritt, freigegeben. Mit der Wirtschaftskrise in diesen Ländern, z.B. in Spanien und Italien, hat sich gleichzeitig die Migration von Roma nach Deutschland verstärkt.

Dennoch ist der Begriff der „Armutszuwanderung“ inzwischen zum Synonym für Roma geworden. Ebenso wird die Diskussion über „Sozialmißbrauch“ ausschließlich auf dem Rücken von Roma ausgetragen. Diese Diskussion setzt gezielt auf alte Vorurteile. So wird in der Öffentlichkeit der von Bundes-  und Landespolitikern erhobene Vorwurf des Mißbrauchs der Freizügigkeit, des Sozialbetrugs oder des Asylmißbrauchs ausschließlich am Beispiel der Roma thematisiert. Eine solche negative Zuschreibung trifft alle Sinti und Roma in Deutschland pauschal, die Angehörigen der seit über sechshundert Jahren im deutschen Sprachraum lebenden Sinti ebenso wie Flüchtlinge oder Zuwanderer. Dies charakterisiert die besondere Situation unserer Minderheit: Jeder Vorwurf, auch gegen einen Einzelnen, wird – wenn er mit der ethnischen Zugehörigkeit verbunden wird – sofort auf die gesamte Minderheit übertragen und als Bestätigung aller alten Vorurteile wahrgenommen.  Diese Codierung kann unterschiedliche politische Lager zusammenführen – sie führt jedenfalls Populisten aller Couleur zusammen.

Die Diskussion um Armutsmigration und Zuwanderungen aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten ist dabei nicht neu.  Es gab sie schon zu Beginn der 1990-er Jahre, als der Eiserne Vorhang fiel, der bis dahin dafür gesorgt hatte, daß Freizügigkeit und Reisefreiheit auch von jenen lautstark gefordert werden konnten, die jetzt ebenso lautstark die Beschränkung der Freizügigkeit zum Schutz Deutschlands und seiner Sozialsysteme fordern. Damals waren es ebenfalls Roma, die wegen der dort nach dem Tod Ceausescus aufflackernden Pogrome aus Rumänien flohen und die als sogenannte „Armutsflüchtlinge“ und „Vorhut zukünftiger Armutswanderungen“ (so ein Spiegel-Titel aus dieser Zeit) als Begründung für die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl herhalten mußten. Auch die Zuspitzung der Konflikte wurde auf dem Rücken der Roma ausgetragen: „Richtig los gingen die Krawalle, nachdem das Asylthema im Bremer Wahlkampf mit bundesweitem Echo hochgezogen wurde. Der bremische Bürgermeister Wedemeier hatte rechtswidrig Roma und Sinti (sic!) an der Bremer Stadtgrenze abgewiesen [und] den Asylunterbringungsnotstand erklärt“, schrieb seinerzeit Heiner Geißler 1991 in der ZEIT.

Die aktuelle Diskussion über Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien, ebenso wie aus Serbien und Mazedonien zeigt, wie schnell die Minderheit wieder zur Zielscheibe rechtspopulistischer Propaganda gemacht werden kann. Es mag sein, daß Sinti und Roma in Deutschland eine besondere Sensibilität gegenüber den Gefahren von Rassismus und Extremismus entwickelt haben. Für eine offene Gesellschaft ist der Zusammenhalt von entscheidender Bedeutung. Minderheiten sind gewissermaßen naturwüchsig in einer schwachen Position. Sie sind auf das Funktionieren ihres Staates, ihrer demokratischen Rechtsordnung angewiesen, und sie wissen, wenn dieser Staat, diese Rechtsordnung in Gefahr gerät, dann kann dies Minderheiten in ihrer Existenz bedrohen.

Es gibt in Deutschland und in Europa einen neuen, zunehmend gewaltbreiten Rassismus gegen Sinti und Roma, der nicht nur Sinti und Roma bedroht.  Die Propaganda rechtspopulistischer Parteien, die in einer Vielzahl von Ländern inzwischen Wahlkampf fast ausschließlich mit rassistischer Hetze gegen Roma machen, wie etwa „Ataka“ in Bulgarien, „Jobbik“ in Ungarn, aber auch die „NPD“ in Deutschland, bereitet nicht nur den Boden für gewaltbereite Angriffe auf Minderheiten, sie findet zunehmend ebenso Eingang in die Mitte der Gesellschaft. In vielen Ländern gab es bereits gewaltsame Übergriffen und Mordanschlägen; in Ungarn fielen einer rechtsradikalen Mordserie in den Jahren 2008 und 2009 insgesamt 11 Menschen zum Opfer. Diese Anschläge und die zugrundeliegende Ideologie zielen nicht allein auf Minderheiten, sie zielen vielmehr auf die Demokratie in Europa.

Die heutige Wertegemeinschaft in Europa hat lange Jahrhunderte gebraucht, bis sie für uns heute fast schon selbstverständlich geworden ist.  Es bedurfte der Erfahrung der nationalsozialistischen Diktatur, des Zweiten Weltkriegs, des Holocaust und der totalen Zerstörung Deutschlands, um den Wert der Demokratie in unserer Gesellschaft bewußt zu machen.  Mit der erneuten Ausgrenzung von Minderheiten – und alle neueren Umfragen zeigen eine starke Tendenz zu einem geradezu vor-modernen homogenen Nationalstaat – wird der Einigungsgedanke der Europäischen Union nachhaltig untergraben.  Gerade in Situationen, in denen ökonomische Verunsicherung herrscht wie aktuell nach der fatalen Finanzkrise, die immer noch nicht überwunden ist, erhalten rechtpopulistische Parteien mit ihren fremdenfeindlichen und antieuropäischen Parolen neuen Auftrieb. Die in jüngster Zeit veröffentlichten Untersuchungen[5] über Antiziganismus in Deutschland und über die Einstellung der Bevölkerung gegenüber Sinti und Roma machen jedenfalls deutlich, daß der bestehende Antiziganismus in Deutschland im Unterschied zum Antisemitismus noch immer nicht umfassend gesellschaftlich geächtet ist.

Festgehalten werden muß an dieser Stelle, daß Sinti in Deutschland seit über sechshundert Jahren ansässig und deutsche Staatsbürger sind.  Seit etwas über einhundert Jahren leben auch verschiedenen Romagruppen, die in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg nach Deutschland kamen, als deutsche Staatsbürger im Lande.   Weitgehend unbekannt geblieben ist es, daß bereits in den 1970er Jahren eine sehr große Zahl von Roma nach Deutschland kam, und zwar als Gastarbeiter zuerst aus Jugoslawien und dann auch aus der Türkei.  Die Zahl dieser Roma in Deutschland ist unbekannt, es gibt lediglich Schätzungen, die allein für das Ruhrgebiet etwa 100.000 Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien annehmen. Damals war der Arbeitsmarkt in Deutschland offen und aufnahmefähig, die Integration der Menschen lief weitgehend ohne Unterstützung von außen. 

Zur Zeit tragen die Kommunen die Hauptlast der Zuwanderung aus den neuen EU-Mitgliedsländern, ohne daß sie am Entscheidungsprozeß der EU-Beteiligung beteiligt waren. Zu Recht fordert hier der Deutsche Städtetag eine direkte Beteiligung des Bundes und der Länder.

Dabei haben die Städte, in denen viele Roma zugewandert sind, bereits zum Teil mit bemerkenswerten Programmen reagiert. In Städten wie Duisburg, Dortmund, Mannheim oder Berlin sind erhebliche Anstrengungen unternommen worden, um die schulische und sprachliche Integration zu fördern, um den Zugang zu Gesundheitsversorgung zu ermöglichen und um den oftmals ausbeuterischen Wohnverhältnissen abzuhelfen. Das geschieht durchaus auch im eigenen Interesse der Kommunen, die schon aufgrund der demographischen Entwicklung den Zuzug von kinderreichen Familien grundsätzlich begrüßen. Allerdings müssen diesen Kindern und ihren Eltern dann auch die gleichen Startchancen in der Gesellschaft gegeben werden. Dies bedeutet vor allem eine frühzeitige Einbindung in die vorschulische Bildung, die Beteiligung von Müttern und Vätern am Bildungsprozeß der Kinder, Unterstützung von Jugendlichen beim Übergang von Schule zu Beruf, oder Alphabetisierung und Deutschkurse für Erwachsene.

Gegenwärtig sind zu viele der Menschen, die nach Deutschland kommen, Mietwucherern ausgeliefert und müssen für wenige Euro Stundenlohn auf Großbaustellen arbeiten.  Ohne jeden rechtlichen Schutz werden sie zu Opfern ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse. 

Ein positives Gegenbeispiel hat der Manager einer katholischen Wohnungsgesellschaft, Benjamin Marx, gesetzt. Das von ihm realisierte vorbildliche Wohnprojekt für Roma-Familien in der Harzer Straße in Berlin wurde bundesweit bekannt. Solche Vorzeigeprojekte bleiben jedoch die Ausnahme.

An den grundsätzlichen Auslösern der Migration in den Herkunftsländern ändert jedoch weder ein gelingender Umgang in Deutschland noch das aktuelle Asylrecht etwas. Der Zentralrat hat deshalb die Bundesregierung aufgefordert, eine aktive Rolle bei der Umsetzung der EU-Strategie zur Verbesserung der Lage von Roma in Europa zu übernehmen, und zwar sowohl durch direkten Einfluß über die Europäische Union auf die Herkunftsländer, als auch durch bilaterale Programme. Für letzteres wäre beispielweise vorstellbar, gezielte sprach – und Ausbildungsprogramme in Bereichen anzubieten, in denen in Deutschland ein erheblicher Mangel an Arbeitskräften zu verzeichnen ist, wie etwa dem der Altenpflege.  In diesem Bereich könnte insbesondere Frauen in ärmeren Regionen eine Perspektive angeboten werden, die sonst allzuleicht Opfer von Trafficking werden, da es in den extremen Armutsregionen für sie kaum eine Alternative gibt.  Auf der europäischen Ebene müßte es Ziel sein, dort endlich die Programme zur gleichberechtigten Teilhabe von Roma umzusetzen, beginnend mit Infrastrukturprogrammen im Bereich von Wohnen und Arbeit. Auch muß wirksam etwas dagegen unternommen werden, daß nur ein Bruchteil der Fördergelder aus Brüssel tatsächlich auf der lokalen Ebene bei Roma ankommt. Der Großteil der Gelder wurde für andere Vorhaben umgeleitet oder verschwand durch Korruption oder Inkompetenz. Ein wesentlicher Teil der in Brüssel bereitgestellten Mittel aus den Strukturfonds für die Verbesserung der Lage der Roma wurde von den Regierungen zudem gar nicht erst abgerufen. Hierbei spielt auch eine wesentliche Rolle, daß die einzelnen Staaten oftmals nicht über die notwendigen Mittel verfügen, um die nationale Gegenfinanzierung bereitzustellen, da sie ihre Mittel – entsprechend den Anforderungen auch der EU und nicht zuletzt auch Deutschlands – für Industrieansiedlung oder Stärkung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit einsetzen wollen oder müssen. Dabei wird jedoch außer acht gelassen, daß die dringend notwendigen Programme zum Wohnungsbau unmittelbar Konjunkturprogramme für die einzelnen Regionen darstellen. An diesen Programmen zur Verbesserung der Lage von Roma, die langfristig angelegt sein müssen, sollen Roma direkt beteiligt werden. Neben der erforderlichen Partizipation hat dies den Vorteil, daß sich so an vielen Stellen die Möglichkeit bietet, ein Einkommen zu erzielen und sich so für den Arbeitsmarkt weiter zu qualifizieren. Wenn dies nicht geschieht, dann wird sich die Situation in den Herkunftsländern weiter verschärfen.

Hierfür wird es erforderlich sein, dezidierte Strukturen aufzubauen, die die zur Verfügung stehenden Mittel auch ohne die direkte Beteiligung der jeweiligen Mitgliedsstaaten einsetzen können. Ein Beispiel dafür ist der Roma Education Funds im Bereich Bildung. Obwohl grundsätzlich die meisten Roma-Organisationen darin übereinstimmen, daß die Verantwortung für die Verbesserung der Lebenssituation großer Teile der Roma-Bevölkerung bei den jeweiligen Regierungen liegen muß, ist inzwischen klargeworden, daß weder der politische Wille noch die tatsächlichen Möglichkeiten der einzelnen Länder ausreichen, um die in vielfältigen Strategien niedergelegten Initiativen tatsächlich umzusetzen. Die Initiative der Europäischen Kommission zur Festlegung nationaler Strategien zur Integration der Roma wurde deshalb vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma grundsätzlich begrüßt. Sie ist für die jeweiligen nationalen Minderheiten der Roma vor allem in den neuen Mitgliedsländern der Europäischen Union von großer Bedeutung. Es ist jedoch überfällig, daß an Stelle von wortreichen Strategien finanzielle Ressourcen eingesetzt werden, die gezielt die Wohn- und Einkommensmöglichkeiten vor Ort verbessern.  Dies betrifft nicht alleine Roma, sondern ist angesichts der gravierenden Einkommensunterschiede zwischen Regionen in den EU-Mitgliedsstaaten eine langfristige Herausforderung für die Gemeinschaft.

Angesichts der katastrophalen Lebenssituation großer Teile der Roma in Europa hält der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma alternative Wege der Förderung insbesondere des Wohnungsbaus für dringend notwendig.  Der Zentralrat regte deshalb auf dem 4. Roma Summit der Europäischen Union im April 2014 an, einen Roma-Housing-Fund zu etablieren, ähnlich dem Fund, der bereits für die West-Balkan-Region bei der Bank des Europarates (CEB) eingerichtet wurde. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma forderte die Teilnehmer des Roma Summit auf, eine konkrete Empfehlung für die Einrichtung eines solchen Fonds auszusprechen.[6] Die Mittel für diesen Fund sollten unter anderem aus der nicht abgerufenen Förderung des Europäischen Sozial Fund und von möglichen weiteren Geberländern kommen.  Auf alle Fälle würde damit ein Instrument bereitgestellt werden, durch das unmittelbar auf der lokalen Ebene agiert werden kann.  Über die CEB wäre eine weitgehend unbürokratische Programmentwicklung möglich, ebenso ein striktes Monitoring.

Um den bestehenden Problemen angemessen zu begegnen, müssen insbesondere in allen genannten Bereichen die Ressentiments der Mehrheitsbevölkerung gegenüber der Minderheit als ursächlich für deren Ausschluß mit in den Blick genommen werden. Die Ursachen für teilweise vorhandene schlechte Schulbildung liegen nämlich nicht allein in der mancherorts schlechten Wohnsituation oder in dem schlechten Einkommen vieler Familien, sondern sie liegen auch in der jahrhundertealten Ausgrenzung und dem bestehenden Rassismus gegenüber Sinti und Roma in Europa. Wenn die europäischen Strategien Erfolg haben sollen, dann müssen sie auch auf diesen in Teilen der Mehrheitsbevölkerung tief verankerten Rassismus zielen. 

Herbert Heuß

Wissenschaftlicher Leiter beim Zentralrat Deutscher Sinti und Roma

herbert.heuss@sintiundroma.de

 

[1] Roma ist inzwischen der international gebräuchliche Begriff für eine Vielzahl von zum Teil höchst unterschiedlichen Gruppen. Insbesondere Roma in den Ländern Südosteuropas – innerhalb und außerhalb der Europäischen Union – sind keine homogene Gruppe.  Sie unterscheiden sich zum Teil deutlich in Sprache, Kultur oder Religion, nach Stadt oder Land, und sie sind in fast allen gesellschaftlichen Schichten vertreten. Sie sind, wie die meisten Angehörigen der Minderheit Bürger ihrer jeweiligen Heimatstaaten und seit Generationen ansässig.

[2] Herbert Brücker : Auswirkungen der Einwanderung auf Arbeitsmarkt und Sozialstaat: Neue Erkenntnisse und Schlußfolgerungen für die Einwanderungspolitik, Bertelsmann-Stiftung 2013.

http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-2A5C2FD7-9825CE24/bst/xcms_bst_dms_37927__2.pdf

[3] Caritasverband e.V. : Position des Deutschen Caritasverbandes zur EU-Mobilität, 2013, S. 4f., mit Verweisen u.a. auf die Antworten der Bundesregierung.

[4] So zuletzt Romani Rose zur Konferenz der Innenminister der Europäischen Union in Brüssel und zum Koalitionsvertrag, Pressemitteilung des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma vom 6. Dezember 2013; http://zentralrat.sintiundroma.de/content/downloads/presseschau/300.pdf. Die Position der Bundesrepublik Deutschland schlug sich in dem oben genannten FAZ-Artikel nieder.

[5] So die Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes „Zwischen Gleichgültigkeit und Ablehnung“, 2014, die auch eine umfassende Handlungsempfehlung abgibt http://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/Expertisen/Bevoelkerungseinstellungen_Sinti_und_Roma_20140829.html?nn=4191866 oder die der Universität Bielefeld „ZuGleich“, 2014, http://www.uni-bielefeld.de/ikg/projekte/ZuGleich/ZuGleich-Zwischenbericht.pdf.

[6] http://zentralrat.sintiundroma.de/content/downloads/presseschau/311.pdf.