Die Forschungsstelle Antiziganismus an der Heidelberger Universität hat den ersten Band ihrer Schriftenreihe „Antiziganismusforschung interdisziplinär“ vorgelegt. Der Band „Patterns of Symbolic Violence. The Motif of ‚Gypsy‘ Child-theft across Visual Media”, der in englischer Sprache erschienen ist, zeichnet die Erfindung des „Zigeuners, der Kinder stiehlt“ minutiös nach, und zwar von Miguel Cervantes „La gitanilla“ als der ersten proto-rassistischen Erzählung bis zum Stummfilm. Beeindruckend ist die Menge an Material, die in dem Band auf knapp 180 Seiten präsentiert wird – besonders die Auswahl an Bildern und Screenshots aus den analysierten Filmen!, und vor allen Dingen, wie die jeweilige Funktion dieses Kinderraub-Motives mit dem historischen Kontext und dem jeweiligen Kunstform sich ändert. So wird aufgezeigt, wie in der holländischen Historienmalerei der entscheidende Moment nicht der eigentliche „Kinderraub“ ist, sondern das Wiedererkennen des Kindes nach zwei Jahrzehnten – die Botschaft ist klar : adliges Blut ist unveränderbar adelig und wird von seinesgleichen stets wiedererkannt. Mit dem Aufkommen von Druckgraphik und illustrierten Blättern wandert das Motiv in andere gesellschaftliche Schichten; die Botschaft jetzt : von „Zigeunern“ gestohlenen Kindern können nur „weiß“ sein, daher gehören Eltern wie Kinder zur „weißen Rasse“, die Abgrenzung gegenüber den „Zigeunern“ diente jetzt der Integration der Mehrheitsgesellschaft durch die Ableitung von sozialen Spannungen auf die Minderheit.
Wie auch immer, für jede der unterschiedlichen Funktionen der Figur des „Zigeuners“ ist es notwendig, sie im Unterschied zur „weißen“ Mehrheit als „schwarze Zigeuner“ zu markieren und so wird den Sinti und Roma diese Markierung als geradezu unveränderliches rassifizierenden Merkmal aufgegeben – unabhängig davon, wie blond oder weißhäutig die tatsächlichen Sinti oder Roma sind. Auf jeden Fall aber wird gegen diese Projektionsfläche jeder Angehörige einer Mehrheitsgesellschaft in Europa (und ebenso in den anderen westliche Staaten der Welt) automatisch zum Angehörigen der „weißen Rasse“ gemacht, ein Integrationsinstrument, das sich über Jahrhunderte bewährt hat. Dieser seit langem andauernde Prozeß der Rassifizierung (in Anlehnung an Robert Miles) habe konventionelle Muster erzeugt, die von der Mehrheitsgesellschaft als „Normalität“ wahrgenommen würde, die tatsächlich aber für eine permanente Reproduktion eines Antiziganismus sorgen, der notwendig sei für die Selbstdefinition der Mehrheit und deren Stabilisierung, so die These der Autorin.
Ein aktuelles Beispiel für die Wiederkehr des „Kinderraub-Motivs“ lieferte 2017 der Kinderfilm „Nellys Abenteuer“. Hier werde der Gegensatz von „weißer“ Mehrheit und „schwarzer/dunkler“ Minderheit mit allen traditionellen Mitteln des Films aufs neue inszeniert, gruppiert um die Entführung des „weißen“ Mädchens Nelly. Unabhängig davon, mit welcher Absicht Drehbuch und Film konstruiert und produziert wurden, im Ergebnis bleibt die rassifizierte Repräsentation der Figuren, und hier natürlich wiederum der „dunklen“ Roma.
Dieser erste Band der Forschungsstelle Antiziganismus eröffnet breiten Raum für weitere Forschungsarbeiten, nicht nur im Bereich von Film, Literatur und Malerei, sondern für eine interdisziplinäre Analyse jener alten Bilder, die offenkundig immer wieder aktuell aus dem kollektiven Gedächtnis abgerufen werden können.
Der Band kann unter https://heiup.uni-heidelberg.de/catalog/book/483 online gelesen (und die Bilder können in sehr guter Auflösung studiert), als pdf-Dokumentheruntergeladen und selbstverständlich als Druckausgabe gekauft werden.
Mladenova, Radmila:
Patterns of Symbolic Violence: The Motif of ‘Gypsy’ Child-theft across Visual Media, Heidelberg: Heidelberg University Publishing, 2019 (Antiziganismusforschung interdisziplinär – Schriftenreihe der Forschungsstelle Antiziganismus, Band 1).