„Das Gift, das sind die Verfassungsfeinde“

Ein Gespräch mit Romani Rose, dem Vorsitzenden des "Zentralrates Deutscher Sinti und Roma" über Rassismus, das Erstarken der Rechten und sein Vertrauen in den Rechtsstaat und Angela Merkel
Will mit seinem Haus, dem Dokumentationszentrum der Sinti und Roma, aber auch zahlreichen Institutionen in Heidelberg Flagge zeigen: Romani Rose. Foto: Joe

Von Ingrid Thoms-Hoffmann, erschienen in der Rhein-Neckar-Zeitung am 26.05.2020

Eigentlich sollte am Samstag, zum 71. Jahrestag der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, das große Heidelberger Projekt „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (Artikel 1, Absatz 1 des Grundgesetzes) erstmals öffentlich vorgestellt werden. Zwar kann Corona die zig geplanten Veranstaltungen erst einmal stoppen, verhindern kann die Pandemie das Engagement der über 30 beteiligten Institutionen, Behörden, Kulturschaffenden aber nicht, an deren Spitze Oberbürgermeister Eckart Würzner steht. Was eine ganze Stadt will: Aufstehen gegen die Feinde der Verfassung, gegen die Neonazis und Nationalisten. Von Heidelberg soll ein Signal ausgehen mit der Aufforderung an andere Städte, es ihr gleich zu tun. „Wenn wir die zentralen Werte unserer Demokratie verstärkt ins Bewusstsein rücken, ist gleichzeitig damit ein ‚wehret den Anfängen‘ verbunden“, sagt Romani Rose. Aus seinem Haus, dem „Dokumentationszentrum Deutscher Sinti und Roma“, kommt die Idee, gesamtgesellschaftlich „Flagge zu zeigen“. Die Flaggen werden wehen. An der Notwendigkeit lässt der Bürgerrechtler keinen Zweifel aufkommen.

Herr Rose, für Sie ist die deutsche Verfassung beispielhaft. Welcher Passus des Grundgesetzes ist für Sie der wichtigste?

Für mich persönlich steht die Menschenwürde an erster Stelle. Das drückt alles aus und alles Weitere folgt daraus. Denn wenn die Würde unantastbar ist, dann unterliegt sie dem Gleichheitsprinzip in unserem Rechtsstaat: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Ganz bewusst haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes die „Würde des Menschen“ an die erste Stelle unserer Verfassung gesetzt.

Seit über 40 Jahren kämpfen Sie für die Gleichbehandlung der Sinti und Roma vor dem Gesetz.

Das ist richtig, aber es geht dabei nicht nur um die Minderheit. Ich habe wohl auch noch eine andere kulturelle Identität, bin aber zuerst Deutscher, dessen Vorfahren hier seit vielen Jahrhunderten leben. Und wenn ich die deutschen Sinti und Roma vertrete, dann geht es mir doch nicht nur um diese Bevölkerungsgruppe, sondern um uns alle. Denn wenn die Würde des Einzelnen verletzt wird, dann ist die Würde von uns allen verletzt. Und das dürfen wir keinesfalls zulassen.

Was macht für Sie die Gleichheit aus?

Wenn jeder die gleichen Chancen in unserem Land hat, seine Rechte einzuklagen. Wenn bei Diskriminierung und Ausgrenzung die Gesellschaft nicht schweigt. Wenn die Behörden bei Vorwürfen die Staatsbürgerschaft nicht durch die Abstammung ersetzen.

Als Sie mit dem Hungerstreik 1980 in der Gedenkstätte Dachau auf die Lage der Minderheit und ihre Ungleichbehandlung für weltweites Aufsehen sorgten, war die Empörung groß. War das nur ein Strohfeuer oder hat sich was verändert?

Die Situation der Minderheit hat sich seit dieser Zeit positiv verändert. Grundlage war und ist der Rechtsstaat. Nur durch die garantierten Rechte der Verfassung konnte die Bürgerrechtsbewegung erfolgreich sein. Zugegeben, war das nicht immer leicht. Gerade im Nachkriegs-Deutschland blieb bei Polizei und Justiz, aber auch Politikern, der Rechtsstaat teilweise auf der Strecke. Sie waren noch beeinflusst von der menschenverachtenden Ideologie des Dritten Reichs.

Die Menschheitsverbrechen der Nazis begannen mit Gesetzen und endeten in der Vernichtung von Juden, Sinti und Roma oder in der Ermordung Andersdenkender. Unvorstellbar für heutige demokratische Gesellschaften?

In diesem Ausmaß sicherlich. Aber wir müssen wachsam sein. Müssen einschreiten, wenn Menschen ausgegrenzt werden. Schauen Sie zum Beispiel nach Osteuropa. In Staaten wie Bulgarien oder Rumänien lebt die Minderheit in Elendsvierteln, weil es die Politik so will. Die dortige menschenverachtende Wohnsituation, wird als Merkmal ihrer Kultur gerechtfertigt. Oder denken Sie an die Townships in Südafrika – während der Apartheid angelegt, um die weiße Bevölkerung von den Farbigen zu trennen. Hier wie dort werden die Menschen durch Armut stigmatisiert, leben unter menschlich unwürdigsten Bedingungen.

Und in Deutschland?

Hier macht mir das Erstarken des Nationalismus große Sorgen. Beschämend ist doch, dass das Agieren der Rechtsextremisten mit Hetze, Hass und Menschenfeindlichkeit auch vonseiten des Staates verharmlost wurde. Unsere Gesellschaft war damals wie paralysiert. Dieses Versagen der Politik und der staatlichen Institutionen hat die Demokratie geschwächt. Jene Demokratie, die uns nach dem Krieg Freiheit, Wohlstand und Frieden gebracht hat.

Dass den Urhebern von Rassismus keine Öffentlichkeit eingeräumt werden darf, das ist, zumindest in weiten Teilen der Gesellschaft Konsens. Wie aber kann eine Gesellschaft den Opfern helfen?

Wer Opfer geworden ist, der ist auch Opfer seiner eigenen Scham. Und als Opfer fühlt man sich nur dann, wenn man von Staat und Gesellschaft im Stich gelassen wird. Wenn es aber ein Recht für alle gibt und wenn die Justiz dieses auch durchsetzt, dann werden sich die Opfer nicht mehr als Opfer definieren, auch wenn sie angegriffen, diskriminiert oder beleidigt wurden.

Steckt nicht in jedem von uns ein gewisser Rassismus? Schließlich ist dieses Phänomen ja so alt wie die Menschheit?

Da haben Sie recht. Rassismus ist in jedem Menschen. Aber in jedem ist auch das Gespür für Gut und Böse. Und unser Gewissen sagt uns, was das Richtige ist. Das sage ich aus meiner christlichen Überzeugung, aber auch in dem Wissen, dass es das Fundament aller großen Religionen ist.

Corona ist zum Brennglas einer gesellschaftlichen Wahrnehmung geworden: Welche Strategien empfehlen Sie, um gerade jetzt Rechtspopulismus, der sich weltweit Bahn bricht, zu bekämpfen?

Es geht hier nicht um Strategien, sondern um Bewusstseinsbildung. Diese Pandemie macht uns alle gleich, egal welcher Hautfarbe, Abstammung oder Religion wir angehören. Diese epochale Erfahrung zeigt, dass die Menschheit nur überleben kann, wenn sie zusammenhält, wenn sie gesellschaftliche Regeln beachtet. Auf die politische Ebene übertragen, kennen wir aus unserer Geschichte das „Virus“ der NS-Rassenideologie, der sich ausbreitete und den Großteil unseres Staates infizierte, der „Untermenschen“ schuf. Dieses Gift zermürbt, zerfrisst und spaltet eine Gesellschaft, die sich heute ein Recht gegeben hat, das für alle gelten muss. Das „Gift“, das sind die Verfassungsfeinde. Die Spaltung fängt da an, wo das Recht unterschieden wird nach Ansehen der Person.

Bundeskanzlerin Merkel nannte die Corona-Pandemie „eine demokratische Herausforderung“. Sehen Sie die Demokratie in Gefahr?

Solange es die Pressefreiheit gibt, solange es einen offenen Diskurs in unserer Gesellschaft gibt, solange die Gefahr eines Verfassungsbruchs diskutiert wird, und ihre demokratisch gewählten Vertreter um das Wohl der Allgemeinheit ringen, solange sehe ich keine Gefahr für unsere Demokratie. Dass die Kanzlerin und ihre Regierung im Interesse der Bevölkerung handeln, davon bin ich überzeugt. Die Integrität der Kanzlerin steht dabei für mich und für Viele in diesem Land außer Frage. Allein ihr humanitäres Handeln im Flüchtlingsdrama hat die Werte unserer Gesellschaft verdeutlicht, und zeigt, dass der Geist unserer Verfassung nicht nur auf dem Papier steht. Jeder ist zwar für sich selbst verantwortlich, die Politik steht aber in der Verantwortung für das Ganze. Das wichtigste dabei ist das Vertrauen in diesen Staat.

Und inwieweit glauben Sie, dass wir Deutsche die Demokratie auch verinnerlicht haben?

Die Demokratie ist ein kleines Bäumchen gewesen, das uns die Alliierten nach dem Zivilisationsbruch der Nazis gebracht haben. Mittlerweile ist aus dem Bäumchen ein starker Baum geworden, der tiefe Wurzeln geschlagen hat. Das macht unsere rechtsstaatliche Kultur aus. Mit der Wehrhaftigkeit des Rechtsstaats müssen alle jene rechnen, die heute schon wieder glauben die Axt anlegen zu können.

Das Vermächtnis aller Opfer des Holocaust ist ein laut vernehmbares „Nie wieder“. Woran erkennen Sie den Tabubruch, wenn versucht wird, diesen Grundsatz zu unterlaufen?

Das erkennt man immer und sehr eindeutig an diesem „Jetzt muss aber mal Schluss sein“. Wir können aber nur aus der Geschichte lernen. Dabei geht es nicht darum, die Schuld auf heutige Generationen zu übertragen, sondern dass wir gemeinsam unsere Zukunft sichern. Unsere Verfassung ist dafür das Fundament.

Wenn Sie einen Wunsch für die Zukunft frei hätten.

Dann würde ich mir wünschen, dass unsere Gesellschaft die Kraft hat, die erneuten Versuche unsere Demokratie zu zerstören, zu verhindern. Dafür müssen wir aufstehen.


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