Iris Lemanczyk: Brennessel-Haut. Eine wahre Geschichte

Rezension des Sinti-Power-Clubs

Brennnessel‐Haut ist ein biografisches Jugendbuch. Es erzählt die Geschichte des Sinto Kajetan Reinhardt, der den Nationalsozialismus in der kleinen oberschwäbischen Stadt Ravensburg hautnah zu spüren bekommt. Seine Freundschaft zu Heiner Geisler bestimmt die erste Hälfte des Buches, in der zweiten Hälfte bleibt diese Freundschaft in den Gedanken des Protagonisten eine heile Welt, in die
er sich in schweren Zeiten zurückträumt. Die Verfolgung der Ravensburger Sinti während des Nationalsozialismus, der Ausschluss vom Bildungssystem, die Ausgrenzung vom beruflichen und gesellschaftlichen Leben und der Holocaust an den Sinti und Roma sind die großen Themen dieses Buches.

Das Jugendbuch basiert auf den Lebenserinnerungen von Kajetan Reinhardt, des mittlerweile verstorbenen Politikers Dr. Heiner Geißler und von Hildegard Franz. Der historische Kontext wurde unter Mitwirkung des Dokumentations­ und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma sorgfältig recherchiert. Berichtet wird aus dem Leben des anfangs noch kleinen Kajetan Reinhardt, der mit seiner Familie in einem Wohnwagen leben muss. Gemeinsam mit seinem Freund Heiner Geißler erlebt er glückliche Kindheitsmomente in Ravensburg. Die Familie seines Freundes begegnet ihm, trotz der gesellschaftlichen Unterschiede, ohne Vorbehalte. In der ersten Hälfte des Romans geht es hauptsächlich um diese Freundschaft. Dazu gehört auch, wie die beiden Jungen den erstarkenden Faschismus erleben, ihn aushalten und
sich gemeinsam dagegen zu wehren versuchen. Als sich Kajetan – wie alle Sinti und Juden – in der Schule in die hinterste Reihe setzen muss und nicht mehr, wie gewohnt, ganz vorne neben Heiner sitzen darf, bahnt sich der Faschismus seinen Weg in die heile Kinderwelt, an deren Ende die Geislers zwangsversetzt werden und Kajetan mit seiner Familie ins Zwangslager nach Ummenwinkel ziehen muss. In der zweiten Hälfte des Buches erfahren wir etwas von dieser zunehmenden Dunkelheit, davon, dass sich Kajetan immer wieder erhofft, alles würde wieder normal werden. Er hofft darauf, dass sein Freund wieder zurückkommt, dass die Webers zu seiner Kommunion vorbeikommen, zu der er für ein paar Stunden das Lager verlassen darf. Er hofft darauf, dass der Pfarrer Medizin für seinen kranken Vater vorbeibringt, erfährt aber dann, dass die Webers verstorben sind, ebenso der Pfarrer, der aufgrund seiner kritischen Meinung in den Krieg geschickt wurde. Damit schwindet seine Hoffnung von Tag zu Tag.

Heiner Geißler und andere Personen der Mehrheitsgesellschaft werden als Gegenpol zur Dramatik der Verfolgung durch die Nationalsozialisten idealisiert. Oft wirkt der Roman so, als sei der Kontakt mit diesen Menschen das Schönste und Erstrebenswerteste, als seien die Rechte auf Bildung, Wohnraum und Essen nur über sie zu erlangen, als seien Menschenrechte gesellschaftliche Privilegien und
als könnten diese nur über jemandes persönliche Gunst erlangt werden. Bei der Zwangsarbeit fehlt jedes Erbarmen, hier muss
Kajetan schuften, bis er umfällt. Von dem Geld wird die Miete bezahlt, das heißt das Zwangslager Ummenwinkel finanziert. Und das, obwohl alles darauf angelegt ist, die Sinti in diesem Lager sterben zu lassen.
Was uns an diesem Roman stört: 97 Mal wird das Wort „Zigeuner“ verwendet. Manchmal als Eigenbezeichnung, meistens als Beschimpfung und Fremdbezeichnung. Diese große Anzahl macht uns zu schaffen und die Inkonsistenz im Gebrauch macht alles nur noch schlimmer. Es geht so weit, dass sogar die Sinti selbst dieses Wort ab und zu für sich nutzen. Wir denken, dass am Ende des Buches ein Wort felsenfest bei den Lesern verankert sein wird, und das ist eben jenes, das es nicht ins Langzeitgedächtnis schaffen sollte. Wir würden es sehr begrüßen, wenn in der 3. Auflage die negative Fremdbezeichnung stark reduziert werden würde.

Eigentlich ist das Buch ein Coming­-of­-Age­-Roman, denn am Anfang des Buches ist Kajetan neun oder zehn, am Ende ist er 14. Leider entwickelt sich der Charakter des Protagonisten während des Romans nicht, die Hauptfigur wächst lediglich aus den Kleidern raus. Es fehlt hier also ganz viel von dem, womit sich junge Leser*innen sonst noch identifizieren könnten. Man mag das Buch dennoch
nicht weglegen. Zu den starken Momenten der Erzählung gehören kurze Szenen, die so schlimm sind, dass man sie nicht erfinden kann. Da ist zum Beispiel eine kleine Sinteza, die von ihren Mitschüler*innen mit Brennnesseln gegeißelt wird, nur, weil sie eine Sinteza ist. Hier
wird Wesentliches sichtbar, nämlich, dass es nicht nur SS-­Offiziere waren, sondern auch kleine Mädchen in Oberschwaben, die antiziganistische Grausamkeiten durchzuführen verstanden.

Positiv an dem Roman ist, dass die sehr deutliche Kernaussage beim Lesen ankommen muss: Sinti waren schon immer Teil der Gesellschaft, wo sie nicht aktiv ausgeschlossen wurden. Der Autorin gelingt es in ihrem Jugendroman, das Narrativ des Fremden aufzuweichen. Und jetzt kommt das Beste, ganz zum Schluss: Das Buch verzichtet auf romantisierende Klischees, auf die Reproduktion von
Stereotypen und auf antiziganistische Bilder. Daher und wegen der vielen biografischen und historischen Einblicke ist dieses Buch eine klare Leseempfehlung!

Iris Lemanczyk, Horlemann Verlag, 2020