Anmerkungen zum Buch von Rolf Bauerdick „Zigeuner. Begegnungen mit einem ungeliebten Volk“.

Von Herbert Heuß

Rolf Bauerdicks Buch „Zigeuner“ wird in Deutschland kontrovers diskutiert.  Dies gibt Anlass, die auch vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma geübte Kritik nochmals näher auszuführen. Zunächst: Rolf Bauerdick ist kein Rassist. Er kennt Roma in ganz Europa, besucht regelmäßig Ortschaften in Südosteuropa, und er beschreibt in seinem Buch über weite Strecken mit großer Empathie die oftmals elende und perspektivlose Lebenssituation einzelner Romagruppen.

Bauerdicks Buch ist gleichzeitig auf Provokation angelegt, und es provoziert in einer Situation, in der die zunehmende Verelendung großer Teile der Bevölkerung in Südosteuropa, bei vielen Roma noch verschärft durch einen zunehmenden und gewaltbereiten Rassismus, zu Migrationen nach Westeuropa und auch nach Deutschland führen. Ralf Bauerdick will den Begriff Zigeuner wertfrei benutzen, und er will sich als Sprachrohr gegen eine angeblich ‚politisch korrekte‘ aber vermeintlich von den tatsächlichen Roma abgehobene Elite etablieren.  Er reklamiert damit eine Definitionsmacht, wie sie Wissenschaftler und selbsternannte Zigeunerexperten seit jeher für sich in Anspruch nahmen. In jüngerer Zeit wird dies wieder von Tsiganologen mit der Begründung vorgebracht, es müsse einen Oberbegriff geben für die verschiedenen Gruppen, die sich selbst nicht als Roma beschreiben oder begreifen wollen, ebenso aber auch für Gruppen, die Kategorien wie „Dienstleistungsnomaden“ entsprechen und die deshalb von Asien und Afrika bis Europa als „Zigeuner“ firmieren sollen.  So werden Gruppen, etwa „Niltalzigeuner“, die wenig oder nichts miteinander oder schlicht gar nichts mit Roma zu tun haben, in ein Ordnungssystem gebracht, das eher an die biologischen Schubladen von Taxonomen erinnert.  Vor allen Dingen aber wird hier von seitens diverser Wissenschaftler oder Journalisten genau das getan, was sie den politischen Repräsentanten der Roma vorhalten, nämlich höchst differente Gruppen unter einen Oberbegriff zu zwingen, noch dazu einen Oberbegriff, der nicht nur im deutschen Sprachgebrauch deutlich negativ besetzt ist.  Auch etwa im Rumänischen lautet ein Sprichwort : „Von Weitem ist der Zigeuner ein Mensch“.  Offensichtlich ist sich Bauerdick nicht bewusst, in welche Traditionslinie er sich damit stellt: das Standardwerk der 1960er Jahre vom damaligen Zigeunerexperten der Bundesregierung, dem Rassenhygieniker Hermann Arnold, hieß ‚Die Zigeuner‘.

Der Begriff Zigeuner ist nicht wertneutral.  Ein Blick in die deutschen Mundart-Wörterbücher zeigt deutlich die Verbindung mit extrem negativen Vorurteilen bis hin zu rassistischen Stereotypen.  Die international gebräuchliche Bezeichnung Roma, in Deutschland Sinti und Roma – Sinti ist die seit über 600 Jahren im deutschen Sprachraum ansässige Gruppe – ist schlicht und einfach die Selbstbezeichnung der Minderheit.

Die Durchsetzung der Eigenbezeichnung Sinti und Roma im öffentlichen Diskurs war von Anfang an ein zentrales Anliegen der Bürgerrechtsbewegung, die sich seit Ende der 1970er Jahre in der Bundesrepublik formierte. Dabei ging es neben dem berechtigten Anspruch, im Zusammenhang des gesellschaftlichen und politischen Lebens mit der Selbstbezeichnung genannt zu werden insbesondere auch darum, ein Bewusstsein für jene Vorurteilsstrukturen und mit diesen verbundene Ausgrenzungsmechanismen zu schaffen, die im Stereotyp des Begriffs Zigeuner ihre Wurzeln haben.

Im Deutschland der Nachkriegszeit waren die Überlebenden des Holocaust als Zigeuner über Jahrzehnte hinweg systematisch ausgegrenzt worden.  Die Polizeibehörden benutzten den Begriff Zigeuner bei der systematischen Erfassung der gesamten Minderheit, die Entschädigungsämter benutzten den Begriff bei der jahrzehntelangen systematischen Verweigerung einer Entschädigung für die Opfer des Holocaust. Die Einrichtungen der öffentlichen und privaten Fürsorge flankierten diese staatliche Politik, indem sie Sinti und Roma in Deutschland ausschließlich als soziales und eigentlich kriminalpolitisches Problem verhandelten. In dieser Situation entstand Ende der 1970er Jahre die Bürgerrechtsarbeit deutscher Sinti und Roma, die sich offensiv gegen die polizeiliche Sondererfassung und für die Anerkennung des Völkermords an Sinti und Roma in Europa einsetzte. Und hierzu gehörte auch die öffentliche Anerkennung als Sinti und Roma, um gerade mit dieser Selbstbezeichnung gegen die bundesrepublikanische Stigmatisierung und Ausgrenzung vorzugehen. Sinti sind die größte Gruppe, die seit über sechshundert Jahren im deutschen Sprachraum ansässig sind; Roma ist der mittlerweile gängige Oberbegriff für die vielen europäischen Gruppen, die in fast allen Ländern Europas leben.  Sinti und Roma wurden in Deutschland 1997 zusammen mit Dänen, Friesen und Sorben als nationale Minderheit anerkannt.

Bauerdick macht sich in seinem Buch zum Sprachrohr derer, die vom Zigeuner wieder sprechen wollen, und er bezieht deutlich Stellung gegen den Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. Bauerdick hat in seiner Polemik gegen den Zentralrat Deutscher Sinti und Roma allerdings einseitig und unvollständig recherchiert. So behauptet er beispielsweise, dass alle hauptamtlichen Mitarbeiter des Zentralrates „durchweg keine Zigeuner seien“ – richtig nur insoweit, als drei von sieben Mitarbeitern des Zentralrates sich selbst eben als Sinti bzw. Roma verstehen.

Ähnlich ungenau ist die Recherche, wenn Bauerdick über die Auseinandersetzung mit dem damaligen Oberbürgermeister der Stadt Darmstadt berichtet, dem der Zentralrat Rassismus vorgeworfen hatte – ein Vorwurf, den das Oberlandesgericht Frankfurt als zulässig ansah. Dass das Urteil von den Richtern des Oberlandesgerichts wohl begründet war, ignoriert Bauerdick, er zitiert dafür ausführlich aus einer Dokumentation der Stadt Darmstadt, er sprach mit der Tochter des damaligen Oberbürgermeisters. Er sprach nicht mit dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, ebenso wenig mit den damaligen Sozialarbeitern oder mit dem Kinderarzt, die ihm ein anderes Bild der Roma in Darmstadt hätten geben können. Er schreibt nicht über die Familien, die aus Darmstadt vertrieben wurden, nicht über die Kinder, die ihre Schulhefte mit nach Lyon genommen hatten und die ihre Darmstädter Schule, ihre Lehrerin vermissten, nicht über die Verzweiflung der Familien, die wieder vertrieben worden waren und die eine der jungen Mütter zum Selbstmord trieben. Er schreibt nicht über jene Familien, die in anderen Städten Deutschlands Aufnahme gefunden hatten und die dort die Chance auf Bildung und Ausbildung nutzen konnten. Diese einseitige Recherche disqualifiziert Bauerdicks Buch, hier ist es keine seriöse Darstellung. Die Darmstädter Ereignisse schildert Bauerdick ausgiebig, um „jene ideologische Vergiftung des gesellschaftlichen Klimas zu begreifen, das seinen Schatten in die Jetztzeit wirft.“ Die Möglichkeit, dass das Klima in Deutschland durch Nationalsozialismus und dann in der Bundesrepublik Deutschland durch den fortwirkenden Rassismus, durch Ausgrenzung und Diskriminierung vergiftet war, scheint außerhalb Bauerdicks Vorstellungswelt zu sein. Bauerdick entgeht völlig, dass es bei dieser Auseinandersetzung gerade nicht um die Person des Darmstädter Oberbürgermeister ging, sondern genau um das gesellschaftliche Klima, das durch die Rede des Oberbürgermeisters auf den rassistischen Punkt gebracht worden war.

Das Beispiel Darmstadt macht aber auch deutlich, wie selektiv Bauerdick mit seinen Informationen umgeht. Hier wirft Bauerdick Romani Rose vor, die Stadt Darmstadt vor „dubiosen Geschäftemachern“ und „skrupellosen Roma“ gewarnt zu haben, während er an anderer Stelle der Bürgerrechtsarbeit vorwirft, Kriminalität zu tabuisieren. Hintergrund jener damaligen Warnung war, dass in der Tat seinerzeit, nachdem zunächst für eine Gruppe von etwa fünfzig Roma aus dem damaligen Jugoslawien eine Aufnahme in Darmstadt durch einen Beschluss der Stadtverordnetenversammlung möglich wurde, dann weitere Familien auftauchten, die nicht zur ursprünglichen Gruppe gehörten.

Wirklich unbegreiflich wird Bauerdick aber, wenn er einerseits sagt, dass es selbstverständlich keine Zigeunerkriminalität gebe, die der Minderheit pauschal zugeschrieben werden dürfe, er aber dann ausführlich genau diese Verbindung von Kriminalität und Roma herstellt, immer mit dem Zusatz, dies dürfe man nicht verschweigen.  Hierzu an dieser Stelle ein längeres Zitat aus Bauerdicks Buch, das zeigt, wie sehr das, was er schreibt, und das, was er meint, auseinandergehen:

„Nun birgt die Aufzählung von Straftaten, die von ethnischen Minderheiten begangen werden (sic), zwangsläufig die Gefahr, Phänomene kriminellen Verhaltens mit einer vermeintlichen Wesensart zu verknüpfen. So suggeriert der Begriff ‚Zigeunerkriminalität‘ einen ursächlichen Zusammenhang zwischen einer spezifischen Ethnie und spezifischen Verbrechen. Es ist aber nicht das fragwürdige Privileg von Zigeunern, Menschen, die wehrlos auf dem Boden liegen, den Kopf zu zertreten. Die bestialisch massakrierten Toten in den Bandenkriegen um die weltweiten Rauschgiftmärkte, die entsetzlichen Frauenmorde in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez mit hunderten von verstümmelten Leichen, die abgedrehten Gewaltorgien enthemmter Psychopathen, die Exzesse religiöser Eiferer, ethnischer Säuberer oder von Soldaten in Extremsituationen zeigen, dass Menschen aller Kulturen unter bestimmten Bedingungen zu allen erdenklichen Grausamkeiten fähig sind.“

Erstens werden Straftaten nicht von ethnischen Minderheiten begangen, sondern von Straftätern, die dafür zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Das ist Aufgabe von Polizei und Justiz. Und was soll es zweitens heißen, wenn Bauerdick dann Zigeuner in einen Zusammenhang mit schlimmsten Verbrechen bis hin zum Völkermord stellt? Man fragt sich, was hier in Bauerdick gefahren ist. Hier muss er sich in der Tat fragen lassen, wie er mit den Kommentaren zu seinem Buch auf rechten und rechtsextremen Websites umgeht.

Um es nochmals deutlich zu sagen: der Zentralrat hat, wie andere Roma-Organisationen auch, immer darauf insistiert, dass Kriminalität bekämpft werden muss, dass es die Aufgabe der Polizei ist, Kriminalität zu bekämpfen. Und gleichzeitig unterstrichen, dass in einem Rechtsstaat der Einzelne für seine Taten verantwortlich ist, und dass es in einem Rechtsstaat unzulässig ist, dies mit der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit zu verbinden.

Nach der Lektüre dieses Buches von Rolf Bauerdick bleibt der Eindruck: was er zurückhaben will ist die Zeit, als Zigeuner noch Zigeuner genannt werden konnten, er propagiert das Zigeunerbild einer geradezu vormodernen Zeit, und er scheint maßlos enttäuscht, wenn Sinti und Roma diesem Bild nicht entsprechen wollen.