Aufruf zur Beendigung der schulischen Segregation von Roma-Kindern in Europa

Preisverleihung des „Europäischen Bürgerrechtspreises der Sinti und Roma“ an die Kinder und Jugendlichen aus Ostrava im Auswärtigen Amt im Jahr 2010

Vor genau 10 Jahren fällte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein wegweisendes Grundsatzurteil, welches die Segregation von Roma Kindern in Bildungseinrichtungen als diskriminierend verurteilte. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma verweist auf einen aktuellen Aufruf von zahlreichen internationalen Organisationen (UN Menschenrechtsbüro OHCHR, EU Grundrechteagentur FRA, OSZE Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte, Europäisches Netzwerk der nationalen Menschenrechtsinstitute ENNHRI und das Europäische Netzwerk der Antidiskriminierungsstellen Equinet) für eine inklusive Bildung und zur Beendigung dieser strukturellen Diskriminierung.

Berichte der Europäischen Kommission zeigen auf, dass in den letzten Jahren die Bildungsteilhabe zwar grundsätzlich gestiegen ist, dass aber gleichzeitig die Segregation von Roma Kindern weiter zugenommen hat. Die EU Kommission hat deshalb schon Vertragsverletzungsverfahren gegen Tschechien, Slowakei und Ungarn eröffnet, da diese Regierungen ihren Verpflichtungen nicht nachkommen, allen Kindern einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung zu ermöglichen.

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma hat die Roma Kinder aus Ostrava im Jahr 2010 mit dem Sonderpreis des Europäischen Bürgerrechtspreises der Sinti und Roma ausgezeichnet, als Anerkennung für ihren langjährigen Kampf für das Recht auf Bildung.

Pressemitteilung von OHCHR, FRA, OSZE-ODIHR, Equinet, ENNHRI: Brüssel, Straßburg, Wien, Warschau, 13. November 2017

Aktionsaufruf: Kinder gemeinsam für Vielfalt

Da die Ausgrenzung von Roma im Bildungsbereich weiterhin zunimmt, rufen Gleichstellungs- und Menschenrechtsorganisationen dazu auf, die Bemühungen um inklusive Bildung nochmals zu verdoppeln

Brüssel, Straßburg, Wien, Warschau, 13. November 2017: Anlässlich des 10. Jahrestags des Grundsatzurteils des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte bezüglich der Segregation von Roma Kindern im Bildungsbereich, rufen Gleichstellungs- und Menschenrechtsorganisationen dazu auf, die Bemühungen zu intensivieren, um Kinder auf der Basis des europäischen Bekenntnisses zu Würde, Gleichberechtigung und Menschenrechte zusammen zu bringen.

Beim D.H. Fall handelte es sich um eine Klage von 18 Roma Kindern, die in minderwertigen Sonderschulen für Kinder mit geistiger Behinderung und Lernschwächen untergebracht wurden. Am 13. November 2007 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass diese Kinder nach internationalem und europäischem Recht im Bildungsbereich diskriminiert worden waren.

Die Aktion dieser 18 Kinder löste europaweite Anstrengungen aus, um die segregierende, mangelhafte Schulbildung für Roma zu beenden. Trotz dieser Bemühungen ist die Aufhebung der Segregation bisher nicht gelungen. Im Gegenteil, zwar steigt die Teilhabe von Roma in der Schulbildung europaweit stetig, jedoch verschärft sich die Schulsegregation gleichzeitig weiter. Dies zeigt auch ein kürzlich veröffentlichter Prüfbericht der Europäischen Kommission, welcher die Umsetzung des EU-Rahmens für nationale Roma Integrationsstrategien untersucht.

Kinder in segregierter Schulbildung sind Opfer von Diskriminierung. Wenn sie separat unterrichtet werden, sind sie schlechter gerüstet, um die Komplexität unserer vielfältigen Gesellschaften zu bewältigen. Die Bildungssegregation verweigert Roma-Kindern und anderen Minderheiten, Kindern mit Behinderung und Migrations- und Fluchtgeschichten ebenso wie Kindern aus der Mehrheitsgesellschaft die Vorteile von inklusiver Bildung und den positiven Mehrwert, den Vielfalt für eine lebendige Demokratie und vor allem für die Menschen hat. Darüber hinaus begrenzt die minderwertige Bildung, die diese Kinder erhalten, erheblich ihre Chancen im Leben auf allen Ebenen und schadet damit ihrer Lebensqualität.

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs im Fall D.H. kam zu spät für die Kinder, die die Klage eingereicht hatten. Als das Urteil gefällt wurde, waren sie bereits in ihren Zwanzigern. Wie Hunderttausende andere Roma in Europa waren sie unterqualifiziert, ausgegrenzt und gezwungen zu einem Auskommen im Niedriglohnsektor.

Zusätzlich zu den gesetzlichen Verpflichtungen der EU-Mitgliedstaaten, die europäischen Gleichbehandlungsgesetze und internationalen Menschenrechtsverträge umzusetzen, gibt die Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung mit ihrem formulierten Ziel „kein Kind zurückzulassen“ einen wichtigen Impuls für den nochmaligen Auftrag Kinder in inklusiver Bildung zusammenzubringen. Um den Fortschritt in diesem Bereich besser verfolgen zu können, sollten die Staaten außerdem ihre Anstrengungen intensivieren, um ihre Kenntnisse zu erweitern. Dazu gehört auch das Erstellen und Veröffentlichen von Daten im Bildungsbereich, selbstverständlich unter Wahrung der Privatsphäre und des Datenschutzes.

Hinweis an die Redakteure:

In dem Fall „D.H. und andere gegen den tschechischen Staat“ zeigten die achtzehn Roma Kinder, welche die Klage einreichten, auf, dass mehr als die Hälfte aller Kinder in Sonderschulen für leichte geistige Behinderung in der tschechischen Stadt Ostrava Roma Kinder waren.  Außerdem wiesen sie nach, dass mehr als die Hälfte aller Roma Kinder in derartigen Sonderschulen unterrichtet wurden. Sie belegten, dass Roma Kinder in Ostrava 27-Mal häufiger in einer segregierten Bildungseinrichtung landen als Nicht-Roma Kinder.  Dagegen besuchten mindestens 16722 Kinder von 33372 Kinder im Februar 1999 in der gleichen Stadt jeden Tag die Schulen, ohne auch nur ein einziges Roma Kind zu treffen. Der Europäische Gerichtshof stützte sich auf Beweise aus dem Beratenden Ausschuss für das Rahmenübereinkommen sowie aus dem UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung und von der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (jetzt die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte), die aufzeigten, dass die Zahl der Roma Kinder an Sonderschulen in der Tschechischen Republik unverhältnismäßig hoch war. Die Klage wurde erstmals 1999 vor die innerstaatlichen Gerichte gebracht. Eine endgültige Entscheidung fiel am 13. November 2007 von der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat seither in mehreren anderen europäischen Ländern über Fälle von Bildungssegregation entschieden. Es wurde zudem entschieden, dass ebenfalls inhaltlich getrennte Lernarrangements für Roma Kinder auf Basis von Sprache illegal sind. Auch die Verweigerung und Ablehnung der Schulanmeldung von Roma Kindern sowie andere Formen von geduldeter Verletzung der Schulpflicht sind gesetzeswidrig. Ferner haben nationale Gerichte weitere Formen von Bildungssegregation für Roma als illegal eingestuft. Die Europäische Kommission hat weitere rechtliche Schritte gegen EU-Mitgliedstaaten wegen der Segregation von Roma im Bildungsbereich eingeleitet. Das Europäische Handbuch für Gleichstellungsdaten, welches von der Europäischen Kommission veröffentlicht wurde, empfiehlt den Mitgliedstaaten den Stand der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung durch den Aufbau nationaler Wissensbestände zu Gleichstellung und Diskriminierung durch das Erfassen von Daten zu überprüfen.

 

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