Rezension von Moritz Vogel
Annette Leos Buch Das Kind auf der Liste nimmt sich vor, die Geschichte des Sinto-Jungen Willy Blum zu erzählen, der –
sechzehn Jahre alt – im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet wurde. Doch wie erzählt man von diesem schrecklichen Schicksal,
auf das vor allem ein Name auf einer Liste für einen Transport nach Auschwitz hinweist, die am 25. September 1944 im KZ
Buchenwald zusammengestellt wurde? Wer war Willy Blum, von dem es nur ein einziges Foto gibt?
Die Geschichte Willy Blums ist verknüpft mit der von Stefan Jerzy Zweig. Sein Schicksal bildete die Vorlage des Romans
Nackt unter Wölfen von Bruno Apitz, der davon erzählt, wie Widerstandskämpfer einen kleinen Jungen im KZ Buchenwald verstecken. So wurde die Geschichte dieses Kindes weltbekannt und mittlerweile dreimal – zuletzt 2015 von der ARD – verfilmt. Eines blieb jedoch in diesen Erzählungen stets unerwähnt – nämlich der Umstand, dass auf der oben angesprochenen Transportliste mit der Nummer 200 ursprünglich der Name „Zweig, Stefan“ stand und dass Willy Blum durch einen Vermerk auf einem Zusatzblatt an dessen Stelle rückte.
So ging Willy Blum statt Stefan Jerzy Zweig auf den Transport nach Auschwitz-Birkenau. Letztlich machte erst der Protest des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma in Reaktion auf die Neuverfilmung der ARD auf das Schicksal Willy Blums aufmerksam. Infolgedessen
entstand dann die Idee zu diesem Buch. Das Kind auf der Liste bildet also eine Gegenerzählung, die auf ein bisher kaum beachtetes Schicksal eines Sinto aufmerksam macht. Im Buch wird jedoch deutlich, dass es nicht darum gehen kann, beide Schicksale gegeneinander auszuspielen. Sowohl der überlebende Jerzy Stefan Zweig als auch der ermordete Willy Blum wurden Opfer der menschenverachtenden Ideologie und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten. Die Vorstellung von einem „Opfertausch“ ist schon insofern verfehlt, als Willy
Blum sich selbst im Bewusstsein der Konsequenzen für den Transport nach Auschwitz gemeldet hatte, um seinen jüngeren Bruder nicht allein zu lassen.
Anette Leo erzählt die Geschichte von Willy Blum als Geschichte seiner Familie. Dass beide Elternteile Willy Blums aus Künstler- und Schaustellerfamilien stammten, führt die Erzählung in die, „mittlerweile versunkene Welt der Wandermarionettentheater“. Fasziniert rekonstruiert Anette Leo diese Welt, in der Sinti keineswegs Außenseiter der deutschen Gesellschaft waren, sondern mit ihrem Theater ein gern gesehener Gast in vielen Gemeinden und Gaststätten. Zugleich verknüpft Annette Leo die Familiengeschichte der Blums in
hervorragender Weise mit der deutschen Geschichte: Erster Weltkrieg, die wirtschaftlichen Krisenjahre, Nationalsozialismus. So wird ihre Erzählung von Willy Blum und seiner Familie zu einem Panorama der deutschen Geschichte und zeigt, dass die Lebenswelt der Sinti einen Teil dieser Geschichte bildet.
Aufbau Taschenbuch, Berlin 2018