Anlässlich der alljährlichen Pressekonferenz von Ministerpräsident Viktor Orbán am 9. Januar 2020 stellte Orbán offen ein Urteil des Debrecener Berufungsgerichts in Frage, welches den ungarischen Staat bereits im September 2019 zu Schadenersatzzahlungen für die rechtswidrige segregierte Beschulung von Roma-Kindern im ostungarischen Ort Gyöngyöspata verurteilt hatte. Gegen diese Entscheidung des Gerichts ist die Stadt Gyöngyöspata vor das Oberste Bundesgericht in Ungarn gezogen. Orbán will als Ministerpräsident jetzt direkt Einfluss auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes nehmen, indem er in der Frage eine „Nationale Konsultation“ ankündigte, da das Urteil „das Rechtsempfinden der Bürger“ verletzen würde. Dabei suggerierte er in zynischer Verkehrung der Tatsachen, dass nicht die Roma-Kinder die Geschädigten seien, sondern vielmehr die Bürger von Gyönygöspata, die nicht verstehen würden, „dass eine ethnische Minderheit (…) eine stattliche Summe bekommt, ohne irgendwie dafür gearbeitet zu haben“.
Die „Nationalen Konsultationen“ der Regierung bestehen aus Fragebögen, die an alle Haushalte in Ungarn verschickt werden und suggestiv formulierte Fragen enthalten, die auf die Bestätigung der Regierungspolitik abzielen.
„Mit diesen Aussagen schürt Viktor Orbán nicht nur in unverantwortlicher Weise Ressentiments gegen die Minderheit. Der Regierungschef rechtfertigt gleichzeitig das staatliche Versagen bei der Durchsetzung einer gleichberechtigten Bildungsteilhabe für Roma in Ungarn“, so der Zentralratsvorsitzende Romani Rose heute. Trotz ihres gesetzlichen Verbots im Jahre 2003 ist die schulische Segregation von Roma-Kindern in Ungarn nach wie vor weit verbreitet. Wenngleich diese Praxis von ungarischen Gerichten mehrfach als verfassungswidrig verurteilt und auch von der Europäischen Kommission gerügt wurde, scheitert die gemeinsame Beschulung häufig am Widerstand der lokalen und nationalen staatlichen Behörden sowie der Lehrer und Eltern aus der Mehrheitsgesellschaft. „Indem Orbán sich jetzt offen gegen das Urteil des Debrecener Berufungsgerichts stellt, legitimiert er diese rechtswidrige Praxis“, so Rose weiter.
„Wenn ein Regierungsoberhaupt Anweisung gibt, rechtskräftige Gerichtsentscheidungen nicht zu vollstrecken und gleichzeitig ankündigt, das Urteil der Obersten Gerichtshofes durch eine Volksbefragung ersetzen zu wollen, dann setzt er damit den Rechtsstaat außer Kraft. In einem Rechtsstaat fällen Gerichte ihre Urteile auf der Basis von Gesetzen und nicht auf der Grundlage eines von Rassisten aufgeputschten Volksempfindens“, so der Zentralratsvorsitzende.
Der Ministerpräsident nutzte seinen Auftritt darüber hinaus für eine Diskreditierung der von der Open Society Foundation unterstützten NGOs, die seit mehreren Jahren Prozesse gegen die segregierte Beschulung von Roma-Kindern in Ungarn führen. Dabei bediente er sich unverhohlen antisemitischer Ressentiments, die anknüpften an die aktuelle Anti-Soros-Kampagne der Regierungspartei.
Der Ort Gyöngyöspata ist zum Sinnbild schulischer Segregation in Ungarn geworden. Bereits am 6. Dezember 2012 urteilte das Landgericht Eger, dass in Gyöngyöspata rechtswidrig die Segregation von Roma-Kindern praktiziert werde. Roma-Kinder wurden gezielt in gesonderten Klassen mit reduziertem Curriculum zusammengefasst und auch räumlich getrennt von den anderen Schülern im Erdgeschoss der Schule untergebracht. Die Gemeinde Gyöngyöspata und die Grundschule hatten seinerzeit gegen das Urteil Berufung eingelegt. Das Debrecener Berufungsgericht hat nun zugunsten der geschädigten Kinder entschieden und den Schülern bzw. deren Familien für den erlittenen Bildungsschaden Entschädigungszahlungen in Höhe von insgesamt 100 Millionen Forint (annähernd 300.000 Euro) zugesprochen.
Die Praxis der schulischen Segregation ist in Ungarn weitverbreitet und schließt die Kinder von Roma systematisch vom Zugang zu qualifizierter Bildung aus.
Gyöngyöspata war im März und April 2011 Schauplatz uniformierter Aufmärsche rechtsextremer „Bürgerwehren“, die über Wochen die dort ansässigen Roma terrorisieren. Die Aufmärsche wurden von staatlicher Seite nur halbherzig und erst nach nationalen und internationalen Protesten zivilgesellschaftlicher Organisationen unterbunden.