Von Ina Hammel, Wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Hessen e.V., und Emran Elmazi, Leiter des Referates Dialog im Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Für Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov und Vili-Viorel Păun war Hanau mehr als nur eine Stadt vor den Toren der Metropole Frankfurt. Hanau war ihre Heimat – ihr Zuhause, genauso wie für rund 96.000 andere Hanauerinnen und Hanauer.
Mercedes lebte dort mit ihrer dreijährigen Tochter und ihrem 17 Jahre alten Sohn. Als sie für sich und die Kinder Pizza holen wollte, wurde sie ermordet. Mercedes wurde 35 Jahre alt.
Der 33-jährige Kaloyan kam vor zwei Jahren aus Bulgarien nach Hanau. Er war Vater eines siebenjährigen Sohnes und unterstützte mit seiner Arbeit seine Familie in Bulgarien. In der Bar, in der er gelegentlich aushalf, wurde er erschossen.
Vili-Viorel kam im Alter von 16 Jahren aus Rumänien nach Deutschland, weil seine Mutter schwer erkrankt war und sich in Deutschland behandeln lassen wollte. Der junge Mann arbeitete bei einer Kurierfirma. Inzwischen gilt es als erwiesen, dass er den Täter aufhalten wollte, nachdem dieser am ersten Tatort um sich schoss. Vili-Viorel verfolgte ihn daher mit seinem Auto während er erfolglos versuchte, die Polizei zu alarmieren. Am zweiten Tatort in Hanau-Kesselstadt wurde er vom Täter mit drei Kugeln getroffen, als er starb war er gerade einmal 22 Jahre alt.
Mercedes, Kaloyan und Vili-Viorel waren Hanauer – und sie waren Angehörige der Minderheit der Sinti und Roma. Sie waren drei von insgesamt neun Todesopfern, die am 19. Februar 2020 in Hanau einem rechtsterroristischen Mordanschlag zum Opfer fielen. Die Trauer um die Toten schmerzt und lässt auch Sinti und Roma in Angst um ihre Sicherheit zurück.
Der Anschlag war nach dem antisemitischen Anschlag auf die Synagoge in Halle und dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke der dritte rechtsterroristische Anschlag mit Todesopfern innerhalb von zwölf Monaten. Er erschütterte die Zivilgesellschaft vor Ort und weit darüber hinaus. Für den Zentralrat und den Hessischen Landesverband zeigt dieser Anschlag, der in einer Kontinuität rechten Terrors in der Bundesrepublik Deutschland steht,[1] dass wir inzwischen ein sehr bedrohliches politisches und gesellschaftliches Klima haben. Seit 1990 wurden nach Angaben der Amadeu-Antonio-Stiftung mindestens 208 Menschen Opfer rechter Gewalt.[2]
Der Generalbundesanwalt und alle Polizeibehörden – gerade auch in Hessen – sind somit aufgefordert, mit allen rechtsstaatlichen Mitteln endlich konsequent gegen Rechtsextremisten und gewaltbereite Rassisten vorzugehen, und zwar auf allen Ebenen. Das Ausmaß des Problems hat mittlerweile auch die Bundesregierung erkannt. Auf Initiative der Bundeskanzlerin wurde im März 2020 ein Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus eingerichtet, der im Oktober 2020 ein Maßnahmenpaket mit konkreten Handlungsempfehlungen vorlegte. Die Einrichtung des Ausschusses ist ein wichtiges Signal. Ein wichtiger Schritt war es, dass in diesen Prozess die Expertise und Erfahrung von Bevölkerungsgruppen miteinbezogen wurde, die von Rassismus betroffen sind. Der Zentralrat nahm in der zweiten Sitzung des Ausschusses am 2. September 2020 an einer Anhörung der Zivilgesellschaft teil und legte dem Kabinettsausschuss zuvor einen Forderungskatalog entlang der Handlungsfelder des Kabinettsausschusses vor. Was daraus folgt, bleibt abzuwarten.
Reaktionen aus Politik und Gesellschaft
Unmittelbar nach dem Anschlag, am Abend des 20. Februar, fanden in Hanau und in vielen weiteren Städten bereits Mahnwachen statt. Für alle öffentlichen Gebäude galt Trauerbeflaggung. Bei der zentralen Gedenkfeier im Hanauer Kongresszentrum am 4. März, an der sowohl der Zentralrat als auch der Hessische Landesverband teilnahmen, wurde in Anwesenheit der Hinterbliebenen sowie im Beisein von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundespräsident Franz Walter Steinmeier der Opfer und Verletzten gedacht.
Der Zentralrat und der Hessische Landesverband standen von Anfang an mit den betroffenen Familien der Opfer, die Angehörige der Minderheit waren, in Kontakt, kooperierten mit dem Beauftragten der Bundesregierung für die Anliegen von Opfern und Hinterbliebenen von terroristischen Straftaten im Inland, Professor Dr. Edgar Franke, und vertraten ihre Interessen gegenüber Behörden und der Stadt. Die Beratungsstelle des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma hat die Begleitung von Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz übernommen.
Auch wenn die Nachwirkungen der Tat nicht „wiedergutgemacht“ werden können, haben Stadt, Land und Zivilgesellschaft Hilfen organisiert, um die Familien zu unterstützen. So trug die Stadt Hanau die Beisetzungskosten. Im Rahmen der Härteleistungen wurde den Hinterbliebenen eine Soforthilfe zugesprochen. Neben der Stadt Hanau reagierten auch Organisationen der Zivilgesellschaft mit einem Spendenaufruf.[3]
Auch aus Hessen kamen schnelle Signale, die jedoch durch Corona leider bald wieder unterbrochen wurden. Zwei Tage nach dem Anschlag lud Ministerpräsident Volker Bouffier Vertreterinnen und Vertreter der Hanauer Religionsgemeinschaften, des Ausländerbeirates und von Minderheitenselbstorganisationen nach Wiesbaden ein. Der Hessische Landesverband diskutierte gemeinsam mit den anderen Organisationen und dem Hessischen Ministerpräsidenten über Unterstützungsmöglichkeiten für die Hinterbliebenen, Verletzten und Organisationen. Hierbei versprach der Ministerpräsident eine „schnelle und unbürokratische Hilfe“.
Am 19. August 2020, ein halbes Jahr nach der Tat, gab das Hessische Innenministerium das „Sonderförderprogramm Hanau 2020“ bekannt. In diesem sollen für die Unterstützung von Betroffenen des Mordanschlags 600 0 00 Euro bereitgestellt werden. Allerdings ist die Antragsfrist für die Anträge am 2. September 2020 ausgelaufen.
Die Politik hat, im Unterschied zu früheren Anschlägen, wie dem Attentat am Olympia-Einkaufszentrum, die Tat schnell und deutlich als rechtsextrem bewertet. Irritierend wirkten hingegen Medienberichte über die Einschätzungen des BKA, den Täter als „Verschwörungstheoretiker, aber ohne rechtsextreme Gesinnung“ zu bewerten, der seine Opfer aus taktischen Gründen ausgewählt habe. In einer solchen künstlichen Trennung werden die Überschneidungspunkte zwischen Rechtsextremismus, Rassismus und Verschwörungstheorien verkannt. Die Ermittlungsbehörden gehen bei Rechtsterrorismus immer wieder von Einzeltätern mit psychischen Problemen aus und wollen keine politische Motivation erkennen.
Sowohl in München als auch in Hanau erfolgte die Auswahl der Tatorte und der Opfer offenkundig nach rassistischen Kriterien. Den Ermittlungsfokus nur auf psychische Aspekte zu legen und die Tat als die eines „wahnsinnigen Einzeltäters“ darzustellen, verharmlost die Bedrohung unserer Gesellschaft durch eine zunehmend gewalt- und terrorbereite Rechte. BKA-Präsident Münch stellte mittlerweile klar, dass das BKA die Tat als eindeutig rechtsextremistisch bewertet und dass die Tatbegehung auf rassistischen Motiven beruhte. Der Abschlussbericht des BKA steht allerdings noch aus.
Lokales Gedenken und Unterstützung vor Ort
In Hanau gründeten Bürgerinnen und Bürger am 6. März die „Initiative 19. Februar Hanau“. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, Betroffene zu unterstützen und an die Opfer zu erinnern. Seit April stellt die Initiative einen Raum in der Nähe des ersten Tatortes bereit, welcher als wichtiger Treff- und Anlaufpunkt für die Hinterbliebenen und Opfer dient. Ebenfalls in Reaktion auf den Anschlag gründete sich das Institut für Toleranz und Zivilcourage.
Zu einem zentralen vorübergehenden Gedenkort wurde das Historische Neustädter Rathaus mit dem davor stehenden Nationaldenkmal für die Brüder Grimm. Ein großflächiges Gedenkbanner mit dem Text „Kein Platz für Rassismus und Gewalt. Hanau steht zusammen. Für Respekt, Toleranz und Zivilcourage“ an der Rathausfassade soll unübersehbar dokumentieren, dass die Menschen der Stadt an der Seite der Angehörigen stehen. Fotos und Tafeln mit den Namen erinnern an die Ermordeten. Nach Angaben der Stadt Hanau soll das Denkmal bis zur Fertigstellung einer Gedenkstätte als Trauer- und Gedenkpunkt in der Mitte der Stadt erhalten bleiben. Für Vili-Viorel Păun wurde am 19.10.2020 ein Gedenkstein zur Ehrung seiner Zivilcourage eingeweiht. Auch ein Museum zur Tat und ihrer Aufarbeitung ist im Gespräch – initiiert von den Angehörigen der Opfer.
Situation für die Hinterbliebenen
Die Folgen für die Betroffenen sind vielfältig, ebenso wie die Bewältigungs- und Trauerstrategien. Neben dem Thema Sicherheit ist die Wohnsituation für viele Betroffene ein drängendes Thema. Der Anschlag geschah in direkter Nachbarschaft von Familienangehörigen der Opfer. Damit wurden und werden sie immer wieder an das schreckliche Ereignis erinnert. Viele suchten und suchen aus diesem Grund verzweifelt eine neue Wohnung. Während – auch mit Unterstützung der Stadt Hanau – einige Familien umziehen konnten, konnte der Mehrzahl der Hinterbliebenen auf Grund mangelnder Kapazitäten in Hanau bislang noch keine neue Wohnung vermittelt werden – eine emotional belastende Situation. Auch die psychosoziale Begleitung der zum Teil schwer traumatisierten Familienangehörigen und Freunde konnte nicht in allen Fällen sichergestellt werden. Viele der Hinterbliebenen müssen im Zustand des Dauerschocks weiterleben und sich in diesem Zustand sowohl langwierigen Verwaltungsverfahren stellen als auch ihre Traumafolgen bewältigen.
Durch die Corona-Pandemie verebbte das öffentliche Interesse an dem Anschlag. Unterstützungsprozesse verlangsamten sich und für die Angehörigen und Betroffenen des Anschlags ist es zunehmend schwerer, ihren Anliegen Gehör zu verschaffen. Gerade zu Beginn der Pandemie erschwerten die notwendigen Kontaktbeschränkungen ein Zusammentreffen zwischen den Familien, ebenso wie die die Begleitung ihrer Trauerarbeit oder das Einstehen für ihre Rechte. Auch die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Anschlag und die Durchführung von lokalen und landesweiten Aktionen wurden seitdem verkompliziert.
Die Tat von Hanau ist, wie die Anschläge von Halle und München, der Mord an Walter Lübcke oder die Mordserie des NSU das Ergebnis einer jahrzehntelangen politischen Verharmlosung von Rassismus und rechtem Terror in der Bundesrepublik Deutschland. Eine nachhaltige und verbindliche Strategie auf Bundes- und Länderebene ist überfällig. Es bleibt zu hoffen, dass der jetzt eingesetzte Kabinettsausschuss die notwendigen Weichen im Kampf gegen Rassismus und Rechtsextremismus stellen wird. Neben der Verbesserung der Opferhilfen und Unterstützungsstrukturen durch Selbstorganisationen muss zudem die Bekämpfung von Antiziganismus online und offline stärker in den Blick genommen werden. Gerade im Netz wird massiver Hass geschürt, der immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen auf Sinti und Roma und andere Minderheiten führt.
Weitere Informationen:
www.hanau-steht-zusammen.de
https://19feb-hanau.org/
[1] https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/167786/zeitleiste-rechtsterrorismus
[2] https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/todesopfer-rechter-gewalt/
[3] https://zentralrat.sintiundroma.de/der-zentralrat-deutscher-sinti-und-roma-unterstuetzt-den-spendenaufruf-der-amadeo-antonio-stiftung-fuer-die-opfer-von-hanau/