NS- Festsetzungserlass und offene Fragen der Entschädigung für Sinti und Roma

Dokumentation eines Podiumsgespräches mit Überlebenden und Fachleuten zur Thematik
Dr. Frank Reuter (in der Mitte), wiss. Geschäftsführer der Forschungsstelle Antiziganismus an der Uni Heidelberg, moderierte das Podiumsgespräch. Die Zeitzeugen v. links: Helene Daidone, Frieda Daniels, Gertrud Wimmert, Werner Friedrich.

Am 29. Januar veranstalteten das Dokumentations- und Kulturzentrum und der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma im Aufbau Haus am Moritzplatz in Berlin ein Podiumsgespräch „Anerkennung jetzt!“ mit Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung aus der Gruppe der Sinti und Roma. Überlebende der NS-Verfolgung berichteten aus eigener Perspektive, was das Leben während und nach der Festsetzung für sie persönlich bedeutete und welche Nachwirkungen ihre Verfolgungsgeschichte bis heute hat. Alle vier Überlebenden haben die Festsetzung unter teils hoch traumatisierenden Umständen erlebt. Sie und ihre Familien lebten in ständiger Angst, denn jederzeit konnte der Abtransport in ein Vernichtungslager erfolgen. Wöchentlich mussten sich die festgesetzten Personen bei den örtlichen Polizeibehörden melden. Ihren Eltern war es verboten, ihrer beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Lebensmittelkarten wurden reduziert. Die menschenunwürdigen Lebensumstände der Festsetzung waren haftähnlich und bedeuteten ein permanentes Todesurteil für deutsche Sinti und Roma.

Helene Daidone 

Helene Daidone ist 91 Jahre alt; sie hat die Festsetzung mit ihrer Familie in Hamburg erlebt. Als älteste der 6 Kinder in der Familie kann sich Frau Daidone gut an die schrecklichen Erlebnisse der Verfolgung erinnern: „Wir Kinder haben in der Schule sehr gelitten, wurden mit Steinen beworfen, als Zigeuner beschimpft. Bei Fliegenangriffen durften wir nicht immer in den Keller, Lebensmittelmarken bekamen wir oft nicht, wir hatten ständig Angst vor der Gestapo, dass sie uns ins KZ verbringen, wir mussten uns wöchentlich melden, wir durften nicht reisen und nicht arbeiten. Was die Sinti mitgemacht haben, ist kaum zu glauben und gutzumachen.“

Frieda Daniels

Frieda Daniels ist heute 87 Jahre alt, sie erlebte die Festsetzung mit ihren Eltern und den 10 Geschwistern. Ihr Vater war Hochseilartist und hatte eine eigene Truppe. Ihre älteren Geschwister arbeiteten in dieser Truppe. 1941 mussten ihr Vater und ihr ältester Bruder zu einer rassenbiologischen Untersuchung nach Berlin fahren. 1942 wurde dem Vater die Arbeitsgenehmigung entzogen. „Wir bekamen nur noch die Hälfte der Lebensmittelmarken, meine älteren Geschwister durften keine Schule mehr besuchen, auch bei einem Fliegeralarm durften wir keinen Luftschutzbunker aufsuchen. Wir durften Hamburg nicht verlassen, weil wir sonst in ein KZ gekommen wären“,- so Frau Daniels.

Werner Friedrich

Werner Friedrich ist 83 Jahre alt; er hat die Festsetzung als 6-jähriger Junge erlebt. Er berichtete von Erniedrigungen und Schlägen, die er in der Schule als Kind mit „Zigeunerherkunft“ erfahren hat. Viele seiner Familienangehörigen wurden in KZs gebracht und ermordet. Seine Schwester kam ins KZ Auschwitz und gehörte zu denen wenigen Verwandten, die überlebt haben.

Gertrud Wimmert

Gertrud Wimmert ist 84 Jahre alt. Als kleines Kind war sie mit ihrer Familie in Niedersachsen festgeschrieben. Die Mutter durfte das Reisegewerbe nicht mehr ausüben, so wurde der Familie die Lebensgrundlage entzogen. Ihre Mutter musste mit fünf kleinen Kindern allein unter menschenunwürdigen Lebensbedingungen der Festschreibung überleben. Frau Wimmert schildert: „damit wir nicht heimlich entkamen, montierte man uns den Unterbau des Wohnwagens ab. Obwohl meiner Mutter das Gewerbe entzogen wurde, ging sie heimlich handeln, um für uns Kinder etwas zu Essen zu verdienen. Sie tat dies unter Einsatz ihres Lebens, denn man hatte uns gedroht, wenn wir uns nicht „angepasst“ verhielten, würden wir wie die anderen „Zigeuner“ auch ins Lager kommen.“

Nach den Berichten der Überlebenden hat Dr. Reuter eine Expertenrunde moderiert, bei der die Teilnehmer über die bundesdeutsche Entschädigungspraxis und bestehende Lücken diskutierten.

Dr. Dina von Sponeck (Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma) erklärte, dass die Entschädigung als nicht abgeschlossen gelten kann und verwies auf vier zentrale Forderungspunkte:

Erstens müsste die Festsetzung endlich als spezifische nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahme anerkannt werden und zu einer laufenden Entschädigungszahlung berechtigen. Zweitens müsste die Berechtigung auf eine laufende Entschädigungsleistung von der deutschen Staatsangehörigkeit entkoppelt werden. Drittens müssten die Überlebenden, deren Kindheit in besonderer Weise beeinträchtigt und traumatisierend war (z.B. Verlust der Eltern, Aufenthalt im KZ u.a.), eine zusätzliche Einmalzahlung in Anerkennung „der geraubten Kindheit“ erhalten. Und viertens müsste der krankenversicherungsrechtliche Status von Hinterbliebenen dauerhaft gesichert sein.

Rüdiger Mahlo (der Repräsentant der Jewish Claims Conference) unterstützte die längst überfälligen Forderungen nach angemessener Entschädigung für die von der nationalsozialistischen Verfolgung betroffenen Sinti und Roma und bekundetet Solidarität. Auch 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz hat Herr Mahlo auf die besondere deutsche Verantwortung gegenüber den Holocaustüberlebenden hingewiesen. Es gelte, den Kreis der Berechtigten zu erweitern und die bestehenden Lücken in der Entschädigung zu schließen. Er betonte, dass die Frage der Krankenversicherung von einer essenziellen Bedeutung für hochbetagte Überlebende und ihre Hinterbliebenen sei. Älteren Personen, die keine Krankenversicherung haben, werde die Lebensgrundlage entzogen. Solidarisch zeigte sich Herr Mahlo mit der Forderung einer Entschädigungszahlung an Überlebende, die nicht in Deutschland leben. Nach einem jahrzehntelangen Kampf sei es der Claims Conference gelungen, dass die jüdischen Überlebenden – ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit und ihres Wohnortes – für eine Entschädigung berechtigt sind. Dies sollte ebenfalls für Sinti und Roma gelten. Mahlo sprach auch die Situation von Kindesüberlebenden an. Nach dem Krieg waren sie mit dem Wiederaufbau ihrer Existenz beschäftigt und konnten gerade deswegen ihre Erfahrungen und Erlebnisse verdrängen. Im hohen Alter kämen diese Traumata jedoch geballt zurück, was einen hohen Bedarf an Hilfeleistung zu Folge hat. Aus diesem Grund wurde ein Child Survivor Fund eingerichtet, für diejenigen, die als Kinder die Nazi-Verfolgung überlebt haben. Gemeint ist eine zusätzliche einmalige Anerkennungsleistung für verfolgungsbedingte in der Kindheit erlittene Traumata. Alternativ wird das besondere Schicksal der Kindesüberlebenden auch durch soziale und psychotherapeutische Maßnahmen gewürdigt. Heute müsste ein vergleichbarer Fonds für Kindesüberlebende der Sinti und Roma eingerichtet werden.

Im Anschluss hieran entwickelte sich eine kontroverse Diskussion zur Frage der Umsetzung der berechtigen Ansprüche bei der bestehenden Gesetzesgrundlage sowie der Rolle der Geschichtswissenschaft mit Blick auf die Frage der Wiedergutmachung. Historiker Prof. Constantin Goschler von der Universität Bochum und Autor des Grundlagenwerks zur Politik der Wiedergutmachung wies darauf hin, dass eine Änderung des bestehenden Bundesentschädigungsgesetzes juristisch bedenklich sei. Denn das Entschädigungsrecht sei eine hochkomplexe Materie und gleiche schon jetzt einem „juristischen Monster“. Er sieht die Gefahr, dass dies Anspruchserwartungen bei den Betroffenen erwecken könnte, die danach womöglich von bürokratischen Instanzen im Rahmen der Einzelfallprüfung nicht erfüllt würden. Eine Durchsetzung der vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma berechtigt erhobenen Forderungen solle daher eher mittels Gewährung von Anerkennungsleistungen aus speziellen Härtefonds erfolgen. Während dieser Punkt unter den Teilnehmern der Diskussion durchaus kontrovers betrachtet wurde, waren sich alle Teilnehmer einig, dass ein dringender Forschungsbedarf im Hinblick auf die nationalsozialistische Verfolgung an den Sinti und Roma besteht. Es fehlt an gesicherten Erkenntnissen über Verfolgungsmaßnahmen auf regionaler und nationaler Ebene und den konkreten Ablauf des Völkermordes. Als nahezu unerforscht gelte der Völkermord an Roma in Osteuropa. Aufgrund dieser Forschungslücken hätten die wenigen noch lebenden Überlebenden häufig größte Probleme, ihr Verfolgungsschicksal nachzuweisen.

Prof. Constantin Goschler verweist auf den Paradigmenwechsel in der Schadenersatzlogik. Es gilt nicht mehr, vorrangig das Verfolgungsschicksal zu rekonstruieren und ein Äquivalent zwischen dem Schaden und der Entschädigung herzustellen, sondern heute steht der Gedanke der Caritas im Mittelpunkt. Man geht dabei von der aktuellen Lebenssituation der Überlebenden und ihren elementaren Bedürfnissen aus. So sollte eine vereinfachte und schnell umsetzbare Nachweiserbringung möglich sein, vor allem im Hinblick auf die nichtdeutschen Roma. Sie sollten für eine laufende Entschädigungsleistung berechtigt sein und auf unbürokratische Weise zu einer Zahlung gelangen – selbst in den entlegensten Dörfern ohne Internet. Herr Mahlo betont die gesamtgesellschaftliche Verantwortung gegenüber Überlebenden.

Manfred Schmitz-Berg kritisierte das Ghettorentengesetz aus dem Jahre 2002. Dieses sei „schlampig formuliert“ und hätte Gerichten und Behörden die Möglichkeit gegeben, Ansprüche abzulehnen. Das sei auch lange bekannt gewesen. In der Rechtsprechung habe es dann Tendenzen gegeben, gegen den Gesetzestext v.a. ab 2009 eine Vielzahl von Anträge auf eine Ghettorente zu bewilligen.   Er beklagte, dass jene – deren Antrag zwischen 2002 und 2009 abgelehnt worden war – die geänderte Rechtspraxis nicht mehr erleben konnten, weil sie mittlerweile verstorben waren. Es geht also nicht nur darum, einen Anspruch zu stellen (sei es seitens des Zentralrats oder der JCC). Ganz wichtig sei auch, an den Gesetzgeber zu appellieren, ein praktikables Gesetz auszuarbeiten. Hier könnten Verbände natürlich beratend Vorschläge machen, „damit so etwas nicht mehr passiert.“

Nach Ende der Expertenrunde meldete sich Frau Simone Barrientos zu Wort und knüpfte an die Entschädigungsansprüche an. Barrientos, Fraktionsmitglied der Linken im Bundestag, forderte mit Nachdruck, die Nachweispflicht aufzuweichen bzw. ganz zu streichen. Frau Barrientos brachte in ihrem emotionalen Beitrag ihre Beschämung darüber zum Ausdruck, dass die Entschädigung der wenigen noch lebenden NS-Opfer immer noch durch viele bürokratische Hürden erschwert würde und sich der Kulturausschuss des Bundestages (dessen ordentliches Mitglied sie ist) gegenwärtig mit der Entschädigung für die Hohenzollern beschäftige. Da ginge es um Millionenbeträge und seit Jahren würden schon „intensive Diskussionen in Hinterzimmern“ laufen.

(von links: Dr. Dina von Sponeck, wiss. Mitarbeiterin im Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, Manfred Schmitz-Berg, Richter am Oberlandesgericht a.D. Düsseldorf, Dr. Frank Reuter, For-schungsstelle Antiziganismus, Prof. Dr. Constantin Goschler, Ruhr-Universität Bochum und Rüdiger Mahlo, deutscher Repräsentant der Conference on Jewish Material Claims Against Germany)

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Der Festsetzungserlass

Mit dem Festsetzungserlass von Himmler vom 17. Oktober 1939 war es Sinti und Roma im Gebiet des deutschen Reiches verboten, sich von dem Ort, an dem sie sich zum Zeitpunkt der Erfassung befanden, zu entfernen. Die sog. Festsetzung diente als Grundlage für polizeiliche Erfassung sowie nachfolgende rassenbiologische Untersuchungen. Festsetzung hatte eine rassenpolitische Zielsetzung: die Vorbereitung der späteren Deportationen und der physischen Vernichtung der Sinti und Roma. Die mit einer Festsetzung verbundenen massiven psychischen Belastungen verursachten potentiell schwerwiegende gesundheitliche Nachwirkungen, auch auf die nachfolgenden Generationen.

Die Bundesregierung hat die Festsetzung bis heute nicht als spezifische nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahme anerkannt. Überlebende Sinti und Roma, die die in ihrer Kindheit die Festsetzung erlebt und überlebt haben, erhielten bis zum heutigen Tage keine laufende Entschädigungsleistung.

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