Hunderttausende Sinti und Roma wurden unter nationalsozialistischer Herrschaft in Deutschland und Europa verfolgt und ermordet. Das historische Wissen zu diesem Genozid wird derzeit unter Leitung der Forschungsstelle Antiziganismus der Universität Heidelberg in einer großangelegten Enzyklopädie zusammengeführt. Erste Beiträge dieser einzigartigen Wissensressource sollen nun online gestellt werden. Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats, betont die historische Bedeutung der Enzyklopädie: „Mit der heute hier vorgestellten Enzyklopädie des Völkermords an den Sinti und Roma Europas wird erstmals – und dieses „erstmals“ unterstreiche ich trotz der Arbeiten, die hierzu in den letzten Jahren erschienen sind – wird also erstmals das Ausmaß dieser Verbrechen erkennbar. Es sind im Rahmen dieses Projekts hunderte und aberhunderte von Tatorten identifiziert worden, von Erschießungen in Osteuropa bis zu den Konzentrationslagern in Westeuropa. Diese Enzyklopädie zeigt gleichzeitig auf, wie rückständig die Erforschung des Holocaust an den Sinti und Roma in Europa immer noch ist. Unser großer Dank gilt daher der Initiatorin dieses Projekts, Frau Dr. Karola Fings, und den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die sie auf europäischer Ebene gewinnen konnte. Besonderer Dank gilt auch Botschafter Dr. Robert Klinke und dem Auswärtigen Amt, die die Finanzierung dieses Projekts sicherstellten.“
Das neue Portal wurde am 5. März 2024 in Berlin der Öffentlichkeit präsentiert. Dazu lud die Forschungsstelle Antiziganismus gemeinsam mit der Stiftung Topographie des Terrors ein. „Ziel des NS-Staats und seiner Rassenideologie war es, die Minderheit der Sinti und Roma zu vernichten. Zu diesem Thema sind zwar in den vergangenen Jahrzehnten bedeutende Spezialstudien erschienen, aber das Wissen ist auch heute noch stark fragmentiert“, erläutert Projektleiterin Dr. Karola Fings von der Forschungsstelle Antiziganismus. Das Online-Portal bietet Zugang zu Fachbeiträgen, die nicht nur alphabetisch sortiert, sondern auch verschiedenen Rubriken wie Tatorte, Lebenswege oder Nachwirkungen zugeordnet sind. Neben Fotografien umfasst die digitale Enzyklopädie auch eine interaktive Karte: Hier werden europaweit alle Tatorte, zu denen Informationen vorliegen, verzeichnet, darunter Konzentrationslager, aber auch Orte, an denen Massaker verübt wurden. Eine Chronologie gibt einen Überblick über alle relevanten Ereignisse von 1933 an.
Mehr als 90 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 25 Ländern arbeiten an der Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma ist von Beginn an einer der Kooperationspartner des Enzyklopädie-Projektes. Das im Sommer 2020 gestartete und auf fünf Jahre angelegte Projekt wird vom Auswärtigen Amt mit Mitteln in Höhe von 1,6 Millionen Euro gefördert und von verschiedenen Kooperationspartnern sowie einem wissenschaftlichen Beirat begleitet. Bis Ende 2025 soll die Enzyklopädie auf rund 1.000 Fachbeiträge anwachsen und einen Meilenstein für die Forschung und Bildungsarbeit darstellen.
Eröffnet wurde die Präsentation in Berlin mit Grußworten von Romani Rose und Botschafter Dr. Robert Klinke in seiner Funktion als Sonderbeauftragter des Auswärtigen Amtes für Beziehungen zu jüdischen Organisationen, Antisemitismusfragen, internationale Angelegenheiten der Sinti und Roma und Holocaust-Erinnerung. Dr. Karola Fings stellte die Online-Enzyklopädie vor, im Anschluss daran folgten ergänzende Beiträge von Prof. Dr. Michael Wildt und Privatdozentin Dr. Jane Weiß von der Humboldt-Universität zu Berlin; der Historiker und die Bildungsforscherin gehören dem wissenschaftlichen Beirat des Enzyklopädie-Projekts an. Dr. Andrea Riedle, Direktorin der Stiftung Topographie des Terrors moderierte die Veranstaltung.
Die Forschungsstelle Antiziganismus wurde als europaweit erste und bislang einzige akademische Institution mit diesem inhaltlichen Schwerpunkt am Historischen Seminar der Universität Heidelberg etabliert. Seit 2017 wird dort zu Ursachen, Formen und Folgen des Antiziganismus in den europäischen Gesellschaften vom Mittelalter bis in die Gegenwart geforscht. Wissenschaftliche Leiterin ist die Heidelberger Osteuropahistorikerin Prof. Dr. Tanja Penter.