Zu Beginn seiner Sitzung am 15. Dezember 2017 gedachte der Bundesrat der Opfer des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma. Anknüpfungspunkt des Gedenkens ist der Auschwitzerlass Heinrich Himmlers vor 75 Jahren. Der Zentralrat nahm mit einer Delegation von 35 Personen, darunter Überlebende und Vorstände seiner Landesverbände, an der Feierstunde im Bundesrat teil. Bundesratspräsident Müller hielt die Gedenkansprache.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
diese Sitzung steht unter einer besonderen und wichtigen Überschrift: dem Gedenken an die Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes an den Sinti und Roma sowie an der Gruppe der Jenischen und anderer Fahrender.
Aus diesem besonderen Anlass darf ich meine Worte mit einem Zitat von Otto Rosenberg beginnen. Dem Mann, der die Gräuel von Auschwitz, Buchenwald, Dora und Bergen-Belsen überlebte und der nach Berlin zurückkehrte. Der seine KZ-Nummer auf seinem Arm mit einer Tätowierung, einem Engel, überdeckte, weil sie ihn immer verfolgte. Und der sagte: „Jetzt ist ein Engel da, der schützt davor, dass sich all die schlimmen Dinge, die damals passierten, wiederholen.“
Otto Rosenberg hat sich zeitlebens für die Anerkennung des Völkermords an den Sinti und Roma und ihre Rechte eingesetzt. Als langjähriger Vorsitzender des Landesverbands Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg ist er vielen Menschen in Berlin und darüber hinaus in nachdrücklicher Erinnerung. Auch durch seinen Einsatz für die Errichtung einer Gedenk- und Erinnerungsstätte am Ort des ehemaligen Lagers in Berlin-Marzahn.
Seine Tochter und jetzige Landesvorsitzende Petra Rosenberg trägt sein Vermächtnis weiter. Ich möchte Sie, liebe Frau Rosenberg, herzlich begrüßen. Ebenso den Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, den stellvertretenden Vorsitzenden des Verbandes der Jenischen, Herrn Hohnstein, Herrn Abel vom Verband der Jenischen und viele weitere Vertreterinneren und Vertreter, Angehörige und Gäste.
Die berührenden Worte von Otto Rosenberg stehen stellvertretend für das unfassbare Leid von über einer halben Million Sinti und Roma, die aus perfiden und menschenverachtenden Gründen verfolgt, gedemütigt und ermordet wurden.
Sinti und Roma fielen wie Juden unter die Nürnberger Rassengesetze von 1935 – Unrechtsgesetze, die der beginnenden Verfolgung den Anstrich von Legitimität verleihen sollten. Diese Entrechtung der Sinti und Roma wurde zu einer weiteren, radikalen Wegmarke einer langen Geschichte von Ausgrenzungen und Diskriminierungen.
Zu Recht wies der Sinto Zoni Weisz in seiner Rede zum „Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus“ im Jahr 2011 darauf hin. Das war nichts „Neues“, so sagte er, „(…) seit Jahrhunderten wurden wir verfolgt und ausgeschlossen.“ Die Nationalsozialisten knüpften in ihrer Rassenideologie an alte Feindbilder und über mehrere Jahrhunderte geprägte Vorurteile an. Darauf fußte ihre Rassenideologie, die zum Bestimmungsfaktor von Verfolgung und Vernichtung wurde.
Lassen Sie mich hier nur einige wenige Stationen der Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma nennen.
1938 befahl Heinrich Himmler die systematische Erfassung und Einstufung der Sinti und Roma nach Mustern, die gleich dem cäsarischen Bewertungssystem „Daumen rauf – Daumen runter“ das Schicksal der Menschen bestimmten. Vorausgegangen waren eine Vielzahl von Gesetzen, die ihnen die Lebensgrundlage entzogen.
In vielen Städten begannen Verfolgungsmaßnahmen, wovon auch Angehörige der eigenständigen Opfergruppe der Jenischen und andere Fahrende betroffen waren. Es entstanden sogenannte Zigeunerlager, wo Menschen zusammengepfercht und weggesperrt wurden. In Berlin gipfelte diese Menschenverachtung in der Maxime, das Stadtbild für die „Olympischen Spiele“ von 1936 „zigeunerfrei“ zu halten.
In den Konzentrationslagern, wie Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen wurden „Arbeitslager“ eingerichtet, wo Sinti und Roma unter erbärmlichsten Umständen Zwangsarbeit leisten mussten. An anderen Orten entstanden Ghettos, die später vielfach zum Ausgangspunkt für Deportationen wurden.
Diese erfolgten ab Mai 1940 in die vielen Konzentrationslager der besetzten Gebiete in Osteuropa und wurden mit dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 auf weitere Gebiete ausgeweitet.
Mit den 1942 im Rahmen der „Endlösung“ begonnenen Massendeportationen wurden die Konzentrations- und Vernichtungslager für Millionen Menschen zu Orten der Qual, des Elends und des Todes. Am 16. Dezember 1942, also morgen vor 75 Jahren, folgte der sogenannte „Auschwitz-Erlass“ durch den „Reichsführer SS“ Heinrich Himmler. Hierin wurde die Deportation der innerhalb des Deutschen Reichs lebenden Sinti und Roma angeordnet. Das Ziel war ihre komplette Vernichtung. Wie wir wissen, wurden mehr als 500.000 Sinti und Roma ermordet.
Meine Damen und Herren, die nur wenigen hier genannten Stationen der Verfolgungsgeschichte vermögen es kaum, uns einen Eindruck vom Ausmaß des Leids zu vermitteln. Und doch ist es wichtig.
Denn: Gedenken ist Bekenntnis zur eigenen Geschichte.
Und: Wir müssen um die historischen Ereignisse wissen, wir müssen die Erinnerung daran wach halten und wir müssen sie weitertragen.
Denn mit dem Gedenken ist auch Verantwortung verbunden – für die Zukunft und für das Hier und Heute.
Der israelische Historiker Yehuda Bauer sprach in seiner Rede zum „Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus“ 1998, davon wie wichtig ihm war, zu vermitteln, dass sich solche Gräuel nicht wiederholen dürfen: „Du, deine Kinder und Kindeskinder sollen niemals Täter werden. Du, deine Kinder und Kindeskinder dürfen niemals Opfer sein. Du, deine Kinder und Kindeskinder sollen niemals, aber auch niemals passive Zuschauer sein bei Massenmord, bei Völkermord und – wir hoffen, dass es sich nicht wiederholt – bei holocaustähnlichen Tragödien.“
Dieser Auftrag ist universell. Er richtet sich an alle Menschen – hier und auf der ganzen Welt. Und dieser Auftrag ist zeitlos und örtlich völlig ungebunden. Er gilt hier wie dort, gestern wie heute und morgen.
Ich betone diesen Zusammenhang bewusst, denn wir leben in Zeiten, wo wir uns erneut verständigen müssen. In welcher Gesellschaft wir leben wollen und wie wir uns zu den Herausforderungen unserer Zeit stellen? Integration, Wachstum, Globalisierung und Digitalisierung. Und es ist wichtig, welche Antworten wir hierauf finden.
Wir erleben, dass es in europäischen Nachbarländern zu einer deutlichen Zunahme rechtspopulistischer Parteien kommt. Und auch bei uns werden diese Stimmen mit ihrem Einzug in viele Länderparlamente und in den Bundestag lauter. Aber ich sage Ihnen auch, dass das nicht die Mehrheit in der Gesellschaft abbildet.
Das ist wichtig und das gilt es, herauszustellen. Und ich gebe Ihnen recht, lieber Herr Rose, wenn Sie fordern, dass wir „antidemokratischen Strömungen“ schärfer begegnen müssen, dass es hier eine klare Sprache braucht, kein Lamentieren und kein Wegducken. Dafür stehen wir demokratisch auch in diesem Hause zusammen. Das dürfen Sie erwarten!
Und ich weiß auch, lieber Herr Rose, dass Sie unentwegt dafür kämpfen, dass die Diskriminierung der Sinti und Roma in vielen europäischen Ländern endlich ein Ende findet und dass Sie Sorge haben, dass mit den Wahlerfolgen der Rechten die Chancen dafür schwinden.
Es liegt in unserer Verantwortung nicht zuzulassen, dass sie in unserer Gesellschaft die Deutungshoheit gewinnen. Und wir kommen in dieser Länderkammer auch zusammen, um uns darüber auszutauschen, damit aus der Minderheit dieser Kräfte keine Mehrheit wird.
Diese Aufgabe hat ein hohes Gewicht, denn wir sehen in vielen Studien, dass fremdenfeindliche Einstellungen zunehmen und nicht nur am Rand, sondern auch in der Mitte der Gesellschaft! Das ist keine Bagatelle. Damit können wir uns nicht zufrieden geben.
Aus der Vergangenheit lernen, heißt eben auch: Demokratie zu schützen. Wo, wenn nicht hier in Deutschland liegt dieser Zusammenhang auf der Hand? Und eben deshalb werden wir hier keine Anstrengung unterlassen, um Deutschland als Ort der Offenheit, Vielfalt und der Demokratie zu erhalten und fortzuentwickeln.
Und das meine ich nicht nur ideell, sondern ganz konkret. Über Partizipation und Teilhabe, über die Förderung von Demokratieprojekten, über eine lebendige Erinnerungskultur und über die Beförderung einer sozial gerechten Gesellschaft, in der jede und jeder sich wahrgenommen fühlt.
Und wir haben bei dieser Aufgabe engagierte und auch unnachgiebige Unterstützung. Ich möchte an dieser Stelle den Mitgliedern des Zentralrats und des Landesverbands Deutscher Sinti und Roma und den vielen Initiativen und Vereinen danken, die sich genau dafür engagieren. Sie sind uns in Ihrem Engagement sehr willkommen und wir wollen das, wo wir können, unterstützen!
Meine Damen und Herren, ich möchte meine Rede mit den Worten der österreichischen Schriftstellerin, Künstlerin und Romni Ceija Stojka enden.
„Es wird mir nie gelingen, das zu vergessen. Niemals. Solange ich leben werde, werde ich daran denken, was sie mit uns gemacht haben, der Hitler und seine Leute. Ich wünsche von der Welt, dass die Leute aufpassen und mit offenen Augen durch die Welt gehen und schauen, dass sich so etwas nie wieder ereignet.“
Diese Bitte ist für uns Auftrag. Ich darf Sie bitten, sich von Ihren Plätzen zu erhaben, um der Opfer nationalsozialistischer Gewalt unter den Sinti und Roma, den Angehörigen der Gruppe der Jenischen und anderer Fahrender zu gedenken.
Quelle: Bundesrat