Am 15. September 2022 findet im Jüdischen Museum in Berlin die Festveranstaltung zum 70. Jahrestag der Unterzeichnung des Luxemburger Abkommens statt, mit dem grundsätzliche Weichen für eine Entschädigung für die nationalsozialistischen Verfolgungen gestellt wurden. Das Abkommen wurde am 10. September 1952 zwischen der Bundesrepublik Deutschland, dem Staat Israel und der Jewish Claims Conference geschlossen und galt zusammen mit dem Abschluss des Londoner Schuldenabkommens als Vorbedingung für die staatliche Souveränität der Bundesrepublik Deutschland.
„Während mit dem Luxemburger Abkommen zu Recht die ‚Wiedergutmachung‘ für die jüdischen Opfer des Holocaust begann, müssen wir anlässlich dieses 70. Jahrestages gleichzeitig daran erinnern, dass die Sinti und Roma um ihre Entschädigung betrogen wurden, was bis heute einen Schandfleck der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte darstellt“, erklärte Romani Rose anlässlich dieses Jahrestags.
Nach dem Ende des Dritten Reichs setzte sich in der Bundesrepublik Deutschland die gesellschaftliche und insbesondere die rassistische Diskriminierung durch staatliche Institutionen gegenüber der Minderheit ungebrochen fort. Im Gegensatz zur Verfolgung der Juden wurde der Holocaust an den Sinti und Roma systematisch geleugnet; rassische Gründe im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) seien – so die offizielle Darstellung seit 1965 – bestenfalls vereinzelt „mitursächlich“ gewesen.
Der Kern des systematischen Betrugs durch die Behörden gegenüber den Sinti und Roma war die staatliche Anordnung, dass bei Entschädigungsanträgen von Sinti und Roma, die zuständigen Entschädigungsämter des Bundes regelmäßig bei der Bayerischen Landfahrerzentrale im Landeskriminalamt (noch bis 1951 unter der NS-Bezeichnung „Zigeunerpolizeistelle des Zentralamts für Kriminalidentifizierung, Polizeistatistik und Polizeinachrichtenwese des Landes Bayern“) nachzufragen hatten, aus welchen Gründen die Antragsteller verfolgt worden seien – ein Skandal, der bis heute nicht umfassend und hinreichend aufgearbeitet ist.
In der Landfahrerzentrale im Bayerischen LKA arbeiteten nach dem Krieg nämlich weiterhin genau die Täter aus der „Zigeunerzentrale“ von Himmlers Reichssicherheitshauptamt, die vor 1945 für die Deportation und Vernichtung der Sinti und Roma verantwortlich gewesen waren – in der gleichen Position wie Adolf Eichmann im Falle der Deportation der Juden. Josef Eichberger, der als leitender Mitarbeiter der „Zigeunerzentrale“ nach Zeugenaussagen einige Deportationen von Sinti und Roma sogar bis in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau begleitete, und die anderen NS-Täter konnten so nach dem Krieg in der Bundesrepublik Deutschland ihre Verbrechen rechtfertigen, indem sie die Opfer kriminalisierten und den Holocaust an den Sinti und Roma leugneten.
Über Jahrzehnte behielten die Täter durch ihre Stellungnahmen und Gutachten die Deutungsmacht über ihre Opfer, indem sie sie weiter kriminalisierten und sich selbst somit rehabilitierten – akzeptiert und anerkannt von allen staatlichen und öffentlichen Institutionen, gerade auch von den Entschädigungsbehörden. Es wäre unvorstellbar und ein internationaler Skandal gewesen, wenn etwa Adolf Eichmann nach dem Krieg eine leitende Position in einem Landeskriminalamt hätte übernehmen können und Gutachten für die Entschädigungsämter über die Gründe für die Deportation von Juden angefertigt hätte. Für Sinti und Roma hingegen war dies bittere Realität im demokratischen Rechtstaat der Bundesrepublik Deutschland.
Dieses ungeheuerliche bürokratische System wurde durch das beschämende Urteil des Bundesgerichtshofs von 1956 legitimiert. In diesem Nachkriegsurteil wurden Sinti und Roma als „primitive Urmenschen“ bezeichnet und die rassische Verfolgung während des Dritten Reichs geleugnet. Vielmehr wurden die Deportationen in die Vernichtungslager als sogenannte „Kriminalprävention“ gerechtfertigt. 2015 bezeichnete die BGH-Präsidentin Jutta Limperg bei einem Besuch des Zentralrats in Heidelberg dieses Urteil als eines „für das man sich nur schämen“ könne und als „unvertretbare Rechtsprechung“.
Der Ausschluss von Sinti und Roma aus der Entschädigung und die fortgesetzte Kriminalisierung bedeutete auch eine massive soziale Stigmatisierung und den Verlust ihrer sozialen Position in der Gesellschaft. Erst die Bürgerrechtsarbeit des 1982 gegründeten Zentralrats Deutscher Sinti und Roma führte nach langen Auseinandersetzungen zu einer grundlegenden Änderung der bis dahin massiv diskriminierenden Entschädigungspraxis. Noch 1986 veröffentlichte die Bundesregierung ihren „Bericht zur Entschädigung für Opfer nationalsozialistischer Gewalt“, in dem sie die bis dahin geübte Entschädigungspraxis gegenüber Sinti und Roma vollständig rechtfertigte. Daraufhin dokumentierte der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma beispielhaft 525 Entschädigungsfälle, die die systematische Benachteiligung der überlebenden Sinti und Roma aufgrund der Zusammenarbeit von Entschädigungsämtern mit den damaligen NS-Tätern in den Entschädigungsverfahren belegten. Erst über arbeitsaufwändige BEG-Zweitverfahren, die vom Zentralrat angestoßen wurden, konnten für diese wenigen Überlebenden Entschädigungsrenten durchgesetzt werden.
Die Kritik des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma Ende der 1980er Jahre führte dazu, dass auch die Landesentschädigungsämter diese Fälle positiv beschieden, nachdem die bisherige Praxis nicht länger zu halten war und auch eine neue Generation von Beamten die Prüfung der Entschädigungsfälle übernommen hatte.
Dennoch bleibt, dass eine sehr große Zahl von Sinti und Roma, die Anspruch auf Entschädigung hatten, gerade in den ersten Nachkriegsjahren an den Folgen der Verfolgung starben, ohne dass ihr Schicksal jemals angemessen gewürdigt wurde.
Noch heute erhalten verfolgte Sinti und Roma, die keine deutsche Staatsangehörigkeit haben, im Gegensatz zu jüdischen Verfolgten, keine laufende Beihilfe. Die Richtlinien der Bundesregierung für die Vergabe von Mitteln an nicht jüdisch Verfolgte in der Fassung vom 07. März 1988 sollte deshalb entsprechend geändert werden, um auch in diesem Punkt eine Gleichbehandlung mit den jüdischen Verfolgten zu erreichen.
Es bedarf jetzt der vielfach geforderten nachholenden Gerechtigkeit, es bedarf der Aufarbeitung der skandalösen Nachkriegsgeschichte der verweigerten Entschädigung von Sinti und Roma, um dieser historischen Verpflichtung für unsere Demokratie tatsächlich zu entsprechen.
Die von der Bundesregierung berufene Unabhängigen Kommission Antiziganismus (UKA), die im vergangenen Jahr ihren Abschlussbericht vorlegt hat, hat die Bundesregierung dazu aufgefordert, das Nachkriegsunrecht gegenüber Sinti und Roma umfassend aufzuarbeiten und insbesondere im Bereich der Entschädigung den wenigen noch lebenden überlebenden Sinti und Roma in Deutschland und in Europa ein Leben in Würde zu ermöglichen.
Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma erwartet jetzt von der Bundesregierung anlässlich des 70. Jahrestages des Luxemburger Abkommens konkrete Schritte zur Aufarbeitung dieser unvorstellbaren und skandalösen Nachkriegspraxis.
Romani Rose wird auf Einladung des Bundesfinanzministeriums an der Festveranstaltung „70 Jahre Luxemburger Abkommen“ am 15. September 2022 teilnehmen