Frank Reuter: Der Bann des Fremden

Von Frank Reuter

Im Oktober 2014 erschien im Wallstein Verlag die Monografie „Der Bann des Fremden. Die fotografische Konstruktion des ,Zigeuners‘“ des ehemaligen wissenschaftlichen Mitarbeiters des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma Frank Reuter. Es ist die erste systematische Untersuchung zum „Zigeuner“-Stereotyp in einem visuellen Leitmedium und damit ein Grundlagenwerk zur Geschichte des Antiziganismus. Im Folgenden gibt der Autor ein kurzes Resümee seines Buches und dessen Zielsetzung.

„Zigeuner“-Stereotypen haben sich gleichermaßen in Hoch- und Populärkultur eingeprägt. Sie legen sich wie ein Raster über unsere heutige Wahrnehmung, meist ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Eine jahrhundertealte Ikonografie des „Fremden“ macht den „Zigeuner“ zur Projektionsfläche für Überlegenheitsfantasien und Angstbilder, aber auch für erotische und exotische Sehnsüchte.
In meinem Buch versuche ich die Tiefenschichten des Sehens von „Zigeunern“ – verstanden als mediales und gesellschaftliches Konstrukt – freizulegen. Mit der Fotografie liegt der Fokus auf einem Schlüsselmedium der Moderne, das die Entwicklung des „Zigeuner“-Bildes seit Mitte des 19. Jahrhunderts maßgeblich beeinflusst hat. Ich begreife Fotografie dabei weniger als ein Dokumentationsmedium, sondern vielmehr als ein Zuschreibungs- und Markierungsmedium, das unser Welt- und Menschenbild prägt. Dabei geht es auch um die Wechselwirkung der Fotografie mit der Literatur und der bildenden Kunst und den daraus resultierenden Verstärkereffekt.
An exemplarischen Bildanalysen werden Markierungsstrategien und Stigmatisierungsmuster untersucht, die dem Konstrukt „Zigeuner“ zugrunde liegen und bis heute wirksam sind. Ebenso werden die politisch-ideologischen und sozialen Kontexte der Fotografien beleuchtet: Unterschiedliche „Zigeuner“-Diskurse haben je eigene Bilderwelten hervorgebracht, die auf ihre spezifischen gesellschaftlichen Funktionen befragt werden. Gezeigt wird, dass die Sicht auf „Zigeuner“ im Medium Fotografie von selektiven und reduktionistischen Wahrnehmungsmustern bestimmt ist, die höchst unterschiedlich instrumentalisiert werden können.

Thematischer Schwer- und Ausgangspunkt ist die Rolle der Fotografie beim nationalsozialistischen Völkermord an den Sinti und Roma. Im NS-Staat war rassenanthropologische Fotografie ein wichtiges Instrument für die rassenbiologische Konstruktion des „Zigeuners“ und damit für die Vorbereitung und ideologische Begründung des Genozids an den Sinti und Roma. In der offiziellen NS-Bildpropaganda wie
in der Amateurfotografie während des Zweiten Weltkriegs blieben althergebrachte Codierungen weiterhin wirksam, wurden jedoch in neue rassenideologische Zusammenhänge gerückt. Untersucht werden die unterschiedlichen Funktionen und Wirkungsfelder des Mediums Fotografie im Verfolgungs- und Vernichtungsprozess.
In der Fotografie des Nationalsozialismus bündeln und überschneiden sich zentrale Entwicklungsstränge der fotografischen Repräsentation von „Zigeunern“, deren Wurzeln ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Eine Schlüsselrolle spielt neben der anthropologischen und kriminologischen Fotografie die ethnologische Fotografie, die – vermittels populärer Medien wie Bildpostkarten, Bildbänden, illustrierten Reiseberichten oder Magazinen – die Entwicklung des „Zigeuner“-Bildes weit über die eigene Fachdisziplin hinaus beeinflusste.
Gegenströmungen zu den dominierenden exotisierenden oder kriminalisierenden Sehweisen sind die Sozialfotografie und die Arbeiterfotografie, deren Vertreter die sozialen und ökonomischen Existenzbedingungen der Abgebildeten thematisieren.

Nach 1945 wirkte die ideologische Erblast des Nationalsozialismus im gesellschaftlichen Umgang mit den Sinti und Roma lange Zeit fort. In Bildbänden und in der illustrierten Massenpresse hingegen knüpfte man an das exotisch-romantische Blickregime des 19. und frühen 20. Jahrhunderts an. Ein tiefgreifender Umdenkungsprozess setzte erst zu Beginn der 1980er-Jahre ein, als eine neue Generation
sozialdokumentarischer Fotografen die sozialen und mentalen Folgen des Völkermords für die Gemeinschaft der Sinti und Roma zum Thema ihrer Bilder machte und das vorherrschende „Zigeuner“-Konstrukt als eine Form der Verdrängung bloßlegte. Damit wurden die bisherige Art des Sehens von „Zigeunern“ und die Prämissen des eigenen Blicks grundlegend hinterfragt.
Eng verwoben ist dieser Prozess mit der sich etablierenden Emanzipationsbewegung der deutschen Sinti und Roma: Erstmals werden Angehörige dieser Minderheit als gesellschaftliche Subjekte mit eigener Stimme und mit eigenem politischen Bewusstsein im Medium Fotografie sichtbar.