Geschichte im Ersten: Der lange Weg der Sinti und Roma

Eine Rezension von Herbert Heuß

„Der lange Weg der Sinti und Roma“ von Adrian Oeser zeigt, wie sehr die Überlebenden der NS-Verfolgungen in Deutschland jahrzehntelang weiter stigmatisiert und diffamiert wurden, wie sich diese Erfahrungen auf die nachfolgenden Generationen bis heute auswirkt, und wie erst die Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma selbst eine Änderung in Politik und zumindest Teilen der Öffentlichkeit, der Medien und der Gesellschaft bewirkte. Oeser setzt damit seine Auseinandersetzung mit der deutschen Nachkriegsgeschichte fort, die er in vielen bemerkenswerten Beiträgen über Antisemitismus  in Deutschland oder über Rechtsextremismus dokumentiert hat.

Sein Film, der am 10 Dezember 2022 mit dem Deutschen Menschenrechts-Filmpreis ausgezeichnet wurde, zeichnet prägende Erfahrungen von Protagonistinnen der Bürgerrechtsarbeit und von Überlebenden des Völkermordes nach, so von Zilli Schmidt, deren Kampf um Entschädigung für die erlittene Verfolgung, die Ermordung ihrer Angehörigen und ihrer vierjährigen Tochter auf bedrückende Weise zeigt, in welchem Ausmaß der Holocaust die Leben der wenigen Überlebenden nachhaltig zerstört hat. Gerade die Beiträge von jüngeren Sinti oder Roma, die als dritte oder vierte Generation nach dem Kriegsende in Deutschland aufgewachsen sind, machen auf beklemmende Weise deutlich, wie sehr Sinti und Roma-Familien im Nachkriegsdeutschland und bis heute unter der Verfolgung und den Verbrechen des Holocaust leiden.

Die ungebrochen fortgeführte Politik von Ausgrenzung und Stigmatisierung in der Bundesrepublik Deutschland, bei der die Täter die Deutungsmacht über die Verbrechen wie über die Opfer behielten, basierte auf einer Form des Rassismus, die die Kategorien der nationalsozialistischen Rassenideologie nahezu vollständig übernahm. Die NS-Täter aus dem Reichssicherheitshauptamt ebenso wie aus der Wissenschaft konnten unbehelligt wieder in leitenden Positionen in den Polizeibehörden oder an den Universitäten arbeiten. Allein gegenüber Sinti und Roma war diese Form des Fortbestehens, besser : der Rechtfertigung nationalsozialistischer Politik in der sich als demokratischer Rechtsstaat verstehenden Bundesrepublik möglich – ein bis heute nicht aufgearbeiteter Skandal der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Stationen der Bürgerrechtsarbeit

Adrian Oeser zeigt parallel die wichtigen Stationen der in den 1970er Jahren entstehenden Bürgerrechtsbewegung, beginnend mit dem Hungerstreik von elf deutschen Sinti im ehemaligen Konzentrationslager Dachau wegen der fortgesetzten Sondererfassung durch die Polizeibehörden und für die Anerkennung des Völkermords, als auch die Besetzung des Universitätsarchivs in Tübingen, wo die Unterlagen des Völkermords illegal weiter genutzt wurden.

Ein erster wichtiger Erfolg war 1982 die Anerkennung des Völkermords durch den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt. Diese Anerkennung fand kurz nach der Gründung des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma statt; es war eine Delegation des Zentralrates, die von Helmut Schmidt empfangen wurde.

Eine weitere Etappe des Films zeigt die langjährige Auseinandersetzung mit der Stadt Darmstadt, einer Gruppe von Roma aus dem damaligen Jugoslawien eine Heimat zu geben, wie es die Stadtverordnetenversammlung ursprünglich beschlossen hatte. Erzählt wird diese Geschichte von dem heutigen Aktivisten Gianni Jovanovic, der damals eines der Kinder war, die in der Hoffnung auf Schutz und Sicherheit nach Darmstadt gekommenen waren.  1982 verübten Rechtsextreme einen Bombenanschlag auf das Haus, im folgenden Jahr verfügte die Stadt den Abriss. Im Anschluss daran erklärte der damalige Darmstädter Oberbürgermeister Günther Metzger: „Der akute Grund war Einsturzgefahr dieses Hauses und Seuchengefahr in diesem Haus und in der Umgebung dieses Hauses.“  Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma hatte diese Aussage von Günther Metzger und den Abriss als „schlimmstes Beispiel von Rassismus nach 1945“ gebrandmarkt.  Die von Metzger erwirkte Unterlassungserklärung gegen den Zentralrat hatte keinen Bestand.  In letzter Instanz entschied das Oberlandesgericht in Frankfurt, dass der Zentralrat den Hausabriss und die Begründung als „schlimmstes Beispiel von Rassismus“ kritisieren dürfe.  Im Prozess hatte unter anderem Simon Wiesenthal als Zeuge ausgesagt.  Leider fehlt dieser wichtige Teil der Auseinandersetzung mit Antiziganismus im Film, allein die Aussage von Metzger bleibt an dieser Stelle stehen. 

Die Auseinandersetzung mit antiziganistische Mustern und die Gefahr deren Reproduktion

Der Antiziganismus in Nachkriegsdeutschland ist die Aufgabe, der sich Oeser mit diesem Film stellt. Er nutzt dafür Archivmaterial des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, das dann kontextualisiert und kritisch bewertet wird. Zentral sind dabei Begriffe, die von den Nazis selbst wie von den NS-Tätern und ihren Epigonen nach 1945 als Rechtfertigung ihrer Taten benutzt wurden: „asozial“ und „Verbrecher“. Die Last, das Gegenteil zu beweisen, lag und liegt in der Regel bei den Opfern, bei Angehörigen der Minderheit selbst.

Wenn der Holocaustüberlebende und Bürgerrechtler Ranco Brantner am Beginn des Filmes in einer Archivaufnahme aus dem Jahr 1980 sagt: die „Menschen sollten doch nicht immer nur das sehen, die Zigeuner am Wohnwagenplatz, sondern sie sollten doch mal die Menschen sehen, die jetzt, noch 35 Jahre nach dem Krieg, in tiefem Leid stehen“, dann will er dezidiert für sich und seine ermordeten Angehörigen die Rechtfertigung der Nationalsozialisten und ihrer Rassenideologie, Sinti und Roma seien „asozial“ zurückweisen. Dieser Begriff „asozial“, der in der ersten Minute des Films gleichsam ein Hauptthema vorgibt, wird anschließend, in Maschinenschrift und gebrochen durch Wasser, gesehen aufgegriffen und kontextualisiert. Auch Julie Halilic, eine der Gründerinnen von Sinti Roma Pride, betont als erstes, dass sie nicht im Wohnwagen, sondern in einer normalen Wohnung lebe. Der Musiker Romani Weiss erzählt, wie seine Familie stets darauf achtete, in der Wohnung leise zu sein, die Kinder immer peinlich ordentlich gekleidet schon in die Grundschule zu schicken, um bloß nicht aufzufallen.

Diesen Erfahrungen von Diskriminierung und Verfolgung werden Archivmaterialien gegenübergestellt, die einerseits die Fortsetzung der NS-Ideologie aufs deutlichste ins Bild setzen, und die gleichzeitig durch die Kommentare von Sinti und Roma wie auch der Erklärungen in den Sprecherkommentaren als antiziganistisch und rassistisch kenntlich gemacht werden sollen.

Der Film gerät damit zwischen Scilla und Charybdis, wo zuerst rassistische Medienkommentare gezeigt werden, die dann aber im Voiceover aufgelöst werden sollen.  Das wiederum ist ein Problem bei jedweder Diskussion und Darstellung oder Verhandlung von Vorurteilsstrukturen, von Klischees und rassistischen Stereotypen. Wie kann über rassistische Bilder gesprochen werden, ohne diese Bilder zu zeigen, wie kann über rassistische Texte geschrieben werden, ohne Teile dieser Texte zu zitieren. Wie können historische Quellen zitiert werden, wenn für viele Aktivisten schon der Begriff „Zigeuner“ nicht länger hinnehmbar ist und durch ein „Z-Wort“ ersetzt wird – bei dem jedem, der sich mit der Geschichte von Auschwitz-Birkenau und den tausenden von „Z“-Nummern befaßt hat, sich der Magen umzudrehen droht. Mit anderen Worten: hier bedarf es einer genauen Kontextualisierung.  Genau dies gelingt dem Film, der so viele positive Beispiele bringt, nicht immer.

Wenn die NS-Verfolgung von Sinti und Roma als „Asoziale“ und „Kriminelle“ beschrieben wird, bereits im Einstieg des Films, wenn aus einem Zeitzeugeninterview genau die Passage ausgewählt wird, in der ein Überlebender erklärt, seine Familie seien in keiner Weise „asozial“ gewesen, wenn bei anderen Interviews wiederholt wird, die Familie sei immer ordentlich, nicht „kriminell“ gewesen, und dann im Voiceover dazu erklärt wird: „Sinti und Roma wurden im Nationalsozialismus als Kriminelle und Asoziale diffamiert und systematisch erfasst“, dazu als Illustration das wieder mit Schreibmaschine getippte Wort, bildschirmbreit, „Verbrecher“, das dann übergeblendet wird in einen polizeilichen Fingerabdruckbogen, dann kippt, zumindest beim Rezensenten, hie und da die Wahrnehmung. Vor allen Dingen aber wird die Beweislast, dass die eigene Familie nicht „asozial“ gewesen sei, den Sinti und Roma selbst wieder zugewiesen, wie gerade die einleitende Szene mit Ranco Brantner zeigt.

Es ist die Reihenfolge, die hier verstört: zuerst kommt die Stigmatisierung als „asozial“, dann folgt die Kontextualisierung, dass für die Erfassung von Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten die Rassenhygienenische Forschungsstelle zuständig gewesen war, deren Arbeit dann wiederum von der Historikerin Karola Fings beschrieben wird, die erläutert, wie die Rassenhygienischen Forschungsstelle dem Reichssicherheitshauptamt die Gutachten lieferte, wer als „Zigeuner“ einzustufen – und zu deportieren war.  Es ist aus der Sozialforschung hinreichend bekannt, dass Vorurteile äußerst veränderungsresistent sind.  Was bleibt Zuschauerinnen potentiell haften, wenn ein Begriff wie „asozial“ von Beginn an den Film durchzieht, der genau dieses Etikett als bundesdeutsches Erbe des Nationalsozialismus kenntlich machen will und statt reproduzieren auflösen sollte?

Kann die notwendige Auseinandersetzung mit Archivmaterialien, die antiziganistische Muster transportieren, immer Gefahr laufen, diese Muster zu reproduzieren?  Das gilt für den Bereich Film genauso wie etwa für die Auseinandersetzung um die Rolle der Polizeibehörden nach 1945 oder beispielsweise die mediale Berichterstattung über angebliche „Roma-Clans“ wie sie aktuell von Bild,  Focus und weiteren Medien in traditionell rassistischer Weise immer wieder vorführt werden.  Das notwendige Sprechen über Antiziganismus muss diese Spannung notgedrungen aushalten.

Bei den weiteren Erklärungen im Voiceover gibt es kleine, gleichwohl gravierende Fehler: es waren nicht die Großeltern, die einen Menschen zum „Zigeunermischling“ machten, sondern bereits einer von acht Urgroßeltern – identifiziert als „Zigeuner“ oder „Zigeunermischling“ – war ausreichend für eine solche Einordnung und die Deportation nach Auschwitz-Birkenau. Hier wird am Beispiel der Sinti und Roma deutlich, was langfristig den Juden in Deutschland zugedacht war. Wenn die rassenhygienische Ideologie der Nazis länger hätte fortwirken können, dann wären Juden möglicherweise noch in einem weitaus größeren Maß verfolgt, deportiert und ermordet worden.

Auch die Feststellung beim Verfahren um die Entschädigung für Zilli Schmidt beinhaltet Fehler. Der Beamte des Bayerischen Landeskriminalamtes, der sein Gutachten über die Gründe, warum Zilli Schmidt in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurde, abgeben konnte, war nicht nur „SS-Mann.  Er war als Polizeibeamter und Mitglied der SS in der „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ im Reichssicherheitshauptamt selbst direkt an der Erfassung und Deportation von Sinti und Roma beteiligt gewesen – die Täter konnten, der Film zeigt es gleichzeitig deutlich, in der Bundesrepublik ungebrochen ihre Karriere fortsetzen, sie blieben straffrei und konnte die Opfer weiter kriminalisieren.

Die Diskussion über den Aufbau des Films, über die Art und Weise, wie mit Antiziganismus gerade auch in Archivmaterialien des Fernsehens umgegangen werden soll, war schon bei der und für die Entstehung des Films wichtig gewesen. Adrian Oesers mit dem Menschenrechts-Filmpreis ausgezeichneter Film gibt jetzt die Möglichkeit, dieses wichtige Thema nochmals in einer Fachkonferenz aufzugreifen.  Der notwendige Dialog zwischen Filmemachern und Organisationen der Bürgerrechtsarbeit jedenfalls hat ein erhebliches Potential, das weit über das Thema Sinti und Roma hinausreicht.  „Der lange Weg der Sinti und Roma“ ist ein Film, über den gesprochen werden muss.

 

Der Film wurde erstmals im März 2022 von der ARD ausgestrahlt und ist im April 2024 erneut im Hessischen Rundfunk zu sehen.

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