Morgen, am 7. Oktober 2021, beginnt in Brandenburg an der Havel vor dem Landgericht Neuruppin der Prozess gegen einen ehemaligen Wachmann des Konzentrationslagers Sachsenhausen. Dem mittlerweile Hundertjährigen wird willentliche Beihilfe zum Mord an 3.518 Menschen vorgeworfen. Unter den Opfern waren auch zahlreiche Sinti und Roma. Mehr als 1.000 waren in Sachsenhausen inhaftiert, viele wurden ermordet oder starben an den unmenschlichen Haftbedingungen. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma wird den Prozess, der wahrscheinlich einer der letzten Prozesse gegen ehemaliges Personal in den Konzentrations- und Vernichtungslagern sein wird, begleiten. Dr. Mehmet Daimagüler wird eine Familie aus der Minderheit der Sinti, deren Angehörige in Sachsenhausen Opfer des Holocaust wurden, in der Nebenklage anwaltlich vertreten. Er begleitet derzeit auch den parallel stattfindenden Prozess in Itzehoe gegen eine 96-jährige ehemalige Sekretärin im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig und trat bereits bei dem letztjährigen Prozess in Hamburg gegen einen ehemaligen Wachmann ebenfalls in Stutthof auf.
Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, betont das jahrelange Versagen der deutschen Justiz, die erst seit wenigen Jahren von sich aus Prozesse gegen die noch lebenden Täterinnen und Täter anstrengt: „Jahrzehntlang zog die bundesdeutsche Justiz die Mörder und Mordgehilfen des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma trotz zwingender Rechts- und Beweislage nicht zur Verantwortung. Über 30 Straf- und Ermittlungsverfahren wurden auf Initiative des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma angestrengt, nur in einem einzigen Fall, dem des Blockführers in Auschwitz, E.A. König, kam es zu einem Urteil. Die wenigen Überlebenden, die ihre Familien verloren hatten, warteten vergeblich darauf, dass die NS-Täter zur Rechenschaft gezogen wurden.“
Die NS-Täter aus Justiz und Reichssicherheitshauptamt wurden vielmehr in die staatlichen Strukturen der jungen Bundesrepublik aufgenommen und konnten gerade in Polizei und Justiz ihre mörderische Tätigkeit verdecken und oft genug rechtfertigen. 1956 verleumdete der Bundesgerichtshof die Sinti und Roma in einem Urteil im NS-Jargon als „artfremd“ und stigmatisierte sie als „primitive Urmenschen“. Dieses Urteil prägte über viele Jahre nicht nur das gesamte Entschädigungsrecht für die Überlebenden der Sinti und Roma, die Ideologie der Ausgrenzung bestimmte auch das Denken und das Bild anderer Behörden und staatlicher Organe, gerade auch der Nachkriegsjustiz. Es war richtungsweisend für das Verhalten der Justiz bezüglich der Verfolgung der Täter und Organisatoren des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma. Es ist der Bürgerrechtsarbeit des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma und seiner Vorgängerorganisationen zu verdanken, dass der Holocaust an den 500.000 europäischen Sinti und Roma 1982 anerkannt wurde.
Dr. Mehmet Daimagüler sagte zu den grundsätzlichen Motiven seiner Mandantin: „Es geht meiner Mandantin nicht um eine harte Bestrafung des Angeklagten. Sie möchte, dass im Gerichtssaal Zeugnis abgelegt wird über die Verbrechen der Nazis an Sinti und Roma, aber auch über das Staats-Unrecht, das den Überlebenden und ihren Nachkommen im Nachkriegsdeutschland angetan wurde. Ausdruck dieses Unrechts war die Leugnung des Völkermords durch Politik und Justiz mit der Folge, dass zehntausende kleine und große und Räder der staatlichen Mordmaschinerie nach dem Krieg nie zur Verantwortung gezogen wurden. Manche fragen nun, warum denn ein 100-jähriger noch vor Gericht gestellt wird, aber diese Frage geht an der Sache vorbei. Die eigentliche Frage müsste doch lauten: Warum erst jetzt? Täter und Taten waren ja seit Jahrzehnten bekannt. Also: Warum erst jetzt?“