Thema und Hintergrund
Seit November 2016 haben Ermittler*innen, Politiker*innen und Journalist*innen die Forderung erhoben, die Anwendung erweiterter forensischer DNA-Analysen in Deutschland gesetzlich zuzulassen. Es geht dabei insbesondere um die Bestimmung der Haut-, Haar- und Augenfarbe (was unter dem Begriff DNA-Phenotyping zusammengefasst wird) sowie der sogenannten „biogeografischen Herkunft“
Aus Sicht von Wissenschaftler*innen und Minderheiten-Vertretungen sind erweiterte DNA-Analysen in der Forensik hoch problematisch, da sich ein solches Verfahren ausschließlich gegen Minderheiten richtet. Schon 2016 formierte sich ein breites akademisches Bündnis und übte Kritik, da zahlreiche Fragen zu den wissenschaftlichen Grundlagen, der Praxisanwendung oder den weitreichenden gesellschaftlichen Folgen nach wie vor ungeklärt sind. Dennoch wurden diese Technologien in vielen Medien, in der Politik und in Ermittlerkreisen frappierend einseitig und positiv dargestellt.
Bislang kam es in Deutschland offiziell nur in einem Fall zu einer erweiterten biogeographischen Herkunftsanalyse mittels DNA, und zwar im Fall der von dem sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) ermordeten Polizistin Michelle Kiesewetter. Diese erste Anwendung einer biogeographischen Herkunftsanalyse richtete sich ausschließlich gegen Angehörige der Minderheit der Sinti und Roma. Der Fall wurde als das „Heilbronn Phantom“ bekannt und ein über Amtshilfe in Österreich erstelltes Gutachten führte dazu das Sinti und Roma massiv in den Fokus der Polizei gerieten. Die Ermittlungsakten dokumentieren unumstößlich den antiziganistischen Charakter der polizeilichen Ermittlungen, welcher sich auch in der rassistischen und hetzerischen Medienberichterstattung widerspiegelte.
Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma beschäftigt sich seit einiger Zeit intensiv und kritisch mit dem kriminalpolizeilichen Ermittlungsansatz erweiterter DNA –Analyse, der mit einem entsprechenden Gesetzesentwurf 2017 (Bundesratsinitiative aus Baden-Württemberg) in den Bundesrat eingebracht wurde und nun im Bundestag verabschiedet werden soll. Sowohl die CDU/CSU als auch die AfD hatten die Zulassung erweiterter DNA-Analysen in ihrem Bundestags-Wahlprogramm 2017. Auch im Rahmen der Regierungssondierungen mit der SPD ist das Gesetz ein Eckpunkt.
Im Sinne des Diskriminierungs- und Minderheitenschutzes ist es notwendig, sich kritisch mit diesem Thema auseinanderzusetzen und eine deutliche Position gegen die Zulassung von DNA-Analysen bei kriminalpolizeilicher Ermittlungen zu beziehen. Nicht nur Sinti und Roma sondern auch andere Minderheiten und gesellschaftliche Gruppen sind davon betroffen. Sie werden dadurch pauschal kriminalisiert und massiv verdächtigt. Denn die Debatte um die Zulassung erweiterter DNA-Analysen knüpft unmittelbar an rassistische Diskurse an, durch die spätestens seit dem 11. September 2001 nicht-mehrheitsdeutsche Personen allein aufgrund ihrer tatsächlichen oder zugeschriebenen Herkunft kriminalisiert und weitere stigmatisiert werden. Die Folgen sind Diskriminierung und gesellschaftliche Ausgrenzung.
Gemeinsam wollen wir daher diese Debatten kritisch begleiten und sie um differenzierte wissenschaftliche Positionen und Fragen erweitern, um eine breite öffentliche Diskussion zum Thema erweiterte DNA-Analysen anzustoßen.
Anmeldung
Datum: 27. März 2018
Veranstaltungsort: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma – Berliner Büro |Aufbau Haus am Moritzplatz | Prinzenstr. 84.2. | 10969 Berlin | 3. Obergeschoss
Wir bitten um eine verbindliche Anmeldung bis zum 22. März 2018.
Ein Online-Anmeldeformular finden Sie hier
Programm
11.00 Begrüßung und Einführung
Anja Reuss, Zentralrat Deutscher Sinti und Roma
Kiana Ghaffarizad, Amadeu Antonio Stiftung
11.20 PANEL 1 | Erweiterter DNA-Analysen als Wahrheitsmaschinerie in der Forensik? |
Moderation| Anja Reuss
- Die öffentliche Darstellung erweiterter DNA-Analysen: Imagination von Wissenschaft, Migration und Angst | Prof. Dr. Veronika Lipphardt
- Vom Genotyp zum Phänotyp | Dr. Joe Dramiga
12.30 PANEL 2 | Bestehen erweiterte DNA-Analysen den Praxistest? |
Moderation| Dr. Markus End
- Potentiale der Fehlinterpretation: Die Rolle erweiterter DNA-Analysen am Beispiel des „Heilbronn Phantom“ | Prof. Dr. Anna Lipphardt
- England & Wales als ambivalentes Muster für eine vorausschauende Anwendung erweiterter DNA-Analysen in der Forensik | Dr. Matthias Wienroth
13.30 Pause mit Mittagsimbiss
14.10 PANEL 3 | Welches Diskriminierungspotential hat DNA-Profiling? |
Moderation| Ruhan Karakul
- Diskriminierung durch erweiterte DNA-Analysen als Mittel einer „Predictive Policing Policy“ | Prof. Dr. Cartsen Momsen
- DNA-Forensik aus Datenschutz-Perspektive | Dr. Thilo Weichert
15.30 Abschlussdiskussion und Resümee mit Stellungnahmen aus der Zivilgesellschaft
- Gen-ethisches Netzwerk
- Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (tbc)
16.30 Ende
Referent*innen
Prof. Dr. Veronika Lipphardt ist Professorin für Science and Technology Studies am University College der Universität Freiburg. Sie studierte Biologie und Geschichte; nach einer Promotion und einem Postdoc-Projekt zur Wissenschaftsgeschichte der Erforschung menschlicher Vielfalt in den Lebenswissenschaften leitete sie 2009-2015 eine unabhängige Forschergruppe am MPI für Wissenschaftsgeschichte. Sie war 2010-2015 Mitglied der Jungen Akademie. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Geschichte der Populationsgenetik und der Biologischen Anthropologie; zur Gegenwart: Genetic History; Forensische DNA-Analysen; populationsgenetische Studien an sogenannten „isolierten Populationen“; epistemische Rahmenbedingungen der „Genetic History“. Zusammen mit ihrer Schwester Anna Lipphardt hat sie im Dezember 2016 eine interdisziplinäre Wissenschaftsinitiative gegründet, die sich für den differenzierten Umgang mit erweiterten DNA-Analysen in der Forensik einsetzt. Gemeinsam editieren sie den Blog der Initiative.
Dr. Joe Dramiga ist promovierter Genetiker und Wissenschaftsblogger auf SciLogs, dem Blogportal von Spektrum der Wissenschaft. In seinen Blogbeiträgen befasst er sich auch mit kommerziellen geografischen Abstammungstests mittels DNA. Diese DNA-Test-Ergebnisse geben dem Kunden eine prozentuale „Abstammungsschätzung“ indem sie Abschnitte der DNA identifizieren, die am besten zu DNA-Referenzdatenbanken moderner Populationen mit geografischen oder ethnischen Bezeichnungen passen. Problematisch ist dabei, dass „Ethnizität“ eine soziale Kategorie ist, die die Abstammung möglicherweise nicht genau widerspiegelt. Die Referenzpopulationen, die zu Vergleichszwecken verwendet werden, sind begrenzt, die auf sie angewendeten ethnischen Bezeichnungen können fragwürdig sein und wurden auf unterschiedliche Weise für verschiedene Zwecke gesammelt: Sie stellen selten echte Stichproben aus einer Population dar.
Prof. Dr. Anna Lipphardt ist Professorin am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Freiburg und Sprecherin des Freiburger Netzwerks für Integrations- und Migrationsforschung. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen Migrations- und Mobilitätsforschung, Raum- und Stadtanthropologie, Anthropologie der Künste, sowie die Geschichte und Kultur der osteuropäischen Juden im 20. Jahrhundert. Seit 2014 forscht sie zum „Heilbronner Phantom“ als wirkmächtiger Fiktion. Zusammen mit ihrer Schwester Veronika Lipphardt hat sie im Dezember 2016 eine interdisziplinäre Wissenschaftsinitiative gegründet, die sich für den differenzierten Umgang mit erweiterten DNA-Analysen in der Forensik einsetzt. Gemeinsam editieren sie den Blog der Initiative.
Dr. Matthias Wienroth ist Sozialwissenschaftler an der Newcastle University (UK). Er analysiert Wissenschaft und Technologie als gesellschaftliche Phänomene, mit dem Ziel verantwortungsbewusster Innovation. Sein besonderes Interesse gilt den sozialen und ethischen Aspekten, sowie den Regulierungsmechanismen, durch die Wissen und technologische Anwendungen organisiert werden. Seit 2012 arbeitet er zum Thema forensische Genetik, u.a. den neuen und erweiterten DNA–Analysen, die sich mit der Ableitung persönlicher Eigenschaften aus dem menschlichen Erbgut beschäftigen. Er hat u.a. im FP7 EUROFORGEN Network of Excellence (2012-16), in seiner ESRC Forschungsseminarreihe (2015-17), und in der Initiative STS-Freiburg (seit 2016) multidisziplinär mit KollegInnen aus Sozial- und Naturwissenschaften sowie Anwendern und Regulierenden molekular-genetischer Technologien gearbeitet.
Prof. Dr. Carsten Momsen ist seit 2015 Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafverfahrensrecht, Wirtschafts- und Umweltstrafrecht an der Freien Universität Berlin. Als Gastwissenschaftler war er an der Symbiosis Law School in Pune/Indien, der University of Toronto und der Columbia University und ist Mitglied der Initiative STS-Freiburg, des Anglo-German Dialogue on Criminal Law and Criminal Justice sowie des „Kriminalpolitischen Kreises“. Unter anderem liegt ein Schwerpunkt seiner Forschung auf der Aufdeckung von Strukturveränderungen und Diskriminierungseffekten bzw. -potentialen im Strafverfahren. Neben der erweiterten DNA-Analyse und den Methoden eines Predicitive Policing gibt es Forschungsprojekte zur diskriminierenden Wirkung von Verfahrensabsprachen (plea bargaining) sowie der Informalisierung und Vorverlagerung von strafrechtlichen Ermittlungen verbunden mit einem Bedeutungszuwachs der Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden. Die Untersuchungen erfolgen vielfach rechtsvergleichend, insbesondere zum US-amerikanischen Strafverfahren. Carsten Momsen arbeitet im Nebenberuf seit über 15 Jahren als Strafverteidiger.
Dr. Thilo Weichert ist Jurist und befasst sich seit über 30 Jahren mit Datenschutz, auch beim Einsatz von Gentechnik. Er war von 2004 bis 2015 Landesbeauftragter für Datenschutz Schleswig-Holstein und damit Leiter des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz in Kiel. Jetzt ist er als Datenschutzberater und im Netzwerk Datenschutzexpertise tätig.
des Zentralrats Deutscher