Rezension Sachbuch: Die Macht des Vorurteils

von Herbert Heuß, erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 03.09.2001, Nr. 204 / Seite 8

Gilad Margalit: Die Nachkriegsdeutschen und „ihre Zigeuner“. Die Behandlung der Sinti und Roma im Schatten von Auschwitz. Metropol Verlag, Berlin 2001.

Peter Widmann: An den Rändern der Städte. Sinti und Jenische in der deutschen Kommunalpolitik. Metropol Verlag, Berlin 2001.

Brigitte Mihok: Zurück nach Nirgendwo. Bosnische Roma-Flüchtlinge in Berlin. Metropol Verlag, Berlin 2001.

Vorurteile sind aufklärungsresistent. Wie weitgehend Politik von Ressentiments bestimmt wird, zeigen drei Publikationen, die das Berliner „Zentrum für Antisemitismusforschung“ vorlegt. Alle drei verhandeln auf unterschiedlichen Ebenen und an unterschiedlichen Beispielen die Wirksamkeit von Stereotypen des „Zigeuners“. Nach Guenter Lewys Monographie „Rückkehr nicht erwünscht“ (siehe F.A.Z. vom 24. Juli 2001) liegt mit dem Band von Gilad Margalit eine weitere Untersuchung vor, die in die Darstellung von nationalsozialistischer Verfolgung ausdrücklich den Vergleich mit der Shoah aufnimmt. Ebenso wie Lewy behält Margalit den Begriff des „Zigeuners“ bei. Erst die Politisierung der siebziger Jahre habe den „Zigeuner“ als abwertenden Begriff eingestuft und durch die Bezeichnung „Sinti und Roma“ zu ersetzen versucht. Der Problemzusammenhang von Kategorisierung und Diskriminierung wird Margalit sowenig wie Lewy bewußt: umgangssprachlich wäre eine Kategorisierung als „Zigeuner“ dann keine Beschimpfung, wenn die so bezeichneten Personen über eine positive und bekennende Identität verfügten. In Deutschland wurde jedoch mit der Bezeichnung als „Zigeuner“ die Zugehörigkeit als „Deutsche“ für die betreffenden Personen auf der Basis ihrer Abstammung in Frage gestellt.

Margalit fragt nach Kontinuitäten in der deutschen Gesellschaft, in den Haltungen der Bevölkerung wie in den Handlungsmustern der Institutionen. Er entwickelt die Einsicht, daß das von den Alliierten durchgesetzte Verbot rassistischer Äußerungen am Beispiel der „Zigeuner“ unterlaufen werden konnte. Ungebrochen konnten hier Argumentationsmuster fortgeführt werden, um die nationalsozialistischen Verbrechen zu mindern oder zu rechtfertigen, Argumente, die gegenüber Juden öffentlich nicht mehr ausgesprochen werden konnten.

Neben einem „romantischen Zigeunerbild“ sieht Margalit als entscheidendes Kontinuum das vom „asozialen Zigeuner“. Dieses sei auch für das „Dritte Reich“ das entscheidende Kriterium gewesen. Entsprechend verbietet sich für Margalit eine Bestimmung der NS-Zigeunerverfolgung als Genozid und in der Folge eine Gleichsetzung mit dem Mord an den Juden. Margalit widmet sich deshalb ausführlich dem „quasi-jüdischen Narrativ“, das diese Gleichsetzung vollzieht. Mit dieser Gleichsetzung sei die Relativierung der Shoah intendiert. Hier verfällt Margalit jedoch einer literarischen Geschichtsschreibung. Gleichwohl gibt er in den Kapiteln über die Nachkriegspolitik, über die (Nicht-)Anerkennung als Verfolgte und über die bundesdeutsche Justiz eine Vielzahl von Informationen, die Raum für genauere Untersuchungen eröffnen. Eine solche legt Peter Widmann vor.

Die Entwicklung der Minderheitenpolitik in Deutschland wird auf der lokalen Ebene in aller Schärfe abgebildet. Vor allen Dingen zieht Widmann die Konsequenz aus der ausschlaggebenden Rolle von Wahrnehmungsprozessen. Nicht das vermeintliche oder tatsächliche Verhalten der betreffenden Personen ist Ursache für ein „Zigeunerproblem“, sondern die Deutungen, die darüber im Kreis politischer Entscheidungsträger und Institutionen kursieren. Er weist nach, wie sich solche kognitiven Rückkopplungen in den Strategien politischer Institutionen in unterschiedlichen politischen Ordnungen durchsetzten.

Am Beispiel Freiburgs und Straubings bestimmt er vier Phasen kommunaler Politik gegenüber Sinti und Jenischen. Ausdrücklich hebt er dabei die Intervention der Sozialwissenschaften in den sechziger Jahren hervor, wodurch die Vertreibungs- und die Kontrollphase der unmittelbaren Nachkriegszeit und der fünfziger Jahre durch sozialpolitische Planung abgelöst wurden. Nach der euphorischen Aufbruchsphase mit ihren neuen Wohnprojekten – auch unterstützt durch die in den achtziger Jahren entstandenen Selbstorganisationen der Sinti mit ihrem öffentlichkeitswirksamen Potential – erweist sich aktuell die langfristige Integration in die Konkurrenzgesellschaft als Wegscheide. Wenn etwa ein Hauptschulabschluß keine beruflichen Perspektiven eröffnen kann und wenn außerdem der Beruf des selbständigen Händlers ein hohes internes Prestige besitzt, dann gibt es für Jugendliche kaum einen Grund, länger als sechs Jahre zur Schule zu gehen. Wenn erfolgreiche Integration in die Mehrheit bedeutet, daß traditionelle Werte und Normen aufgegeben werden, dann müssen diese Werte auch intern, von den eigenen Repräsentanten oder Organisationen, neu bestimmt werden.

Am Freiburger Beispiel, als Modellprojekt zur Integration von Randgruppen und Problemfamilien weit über Deutschland hinaus bekannt, werden schließlich die Grenzen ethnischen Denkens in der sozialen Arbeit deutlich: Wenn es nicht zu einer Wiederholung der Ausgrenzungsmechanismen kommen soll, dann bedarf es einer sozialen und pädagogischen Arbeit, die dezidiert die ethnischen Kategorien – jene spezielle Sinti-Sozialarbeit – überwindet. Diese Forderung der frühen Bürgerrechtsarbeit der Sinti wird durch Widmanns Analyse bestätigt.

Daß und wie die irrationale Wahrnehmung von Sinti/Roma – sei es als vermeintliche „Asoziale“, sei es als vermeintliche „Nomaden“ – von politischen Akteuren nutzbar gemacht wird, zeigt die Untersuchung von Brigitte Mihok über bosnische Roma-Flüchtlinge in Berlin, der eine Repräsentativumfrage zugrunde liegt. Die bosnischen Roma wohnten, wie die meisten der auf dem Balkan lebenden Roma-Gruppen, in eigenen Häusern, weniger als zehn Prozent in Mietwohnungen. Gleichwohl werden sie von den Berliner Verwaltungen als „Nomaden“ behandelt, die zurückgeschickt werden können, egal wohin, da sie doch nirgendwo zu Hause sind.

Mihok beschreibt die Auswirkungen dieser Politik auf die davon betroffenen Menschen: die gezielt desolate, gleichwohl vielfach teurere Unterbringung in Wohnheimen statt in Wohnungen; die entsprechend schwierige Schulsituation der Kinder; das Arbeitsverbot für die Erwachsenen. Das Verhindern der Integration korrespondiert mit der Fahrlässigkeit, mit der Rückkehrinitiativen der Roma gehandhabt wurden. Die Gleichgültigkeit gegenüber dem Individuum, die der Logik des Verwaltungshandelns innewohnt, wird von Mihok offengelegt. Dem sind zehn Berichte von Flüchtlingen gegenübergestellt, in denen die betreffenden Menschen als Individuen sichtbar werden.

Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.09.2001, Nr. 204 / Seite 8

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