Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, über den Begriff Antiziganismus, warum der Zentralrat diesen gegenüber Politik und Öffentlichkeit über viele Jahre durchgesetzt hat und warum Sprache die gesellschaftliche Spaltung auch vertiefen kann:
„In den letzten Wochen und Monaten kam es in der Öffentlichkeit vermehrt zu Debatten über unsere Minderheit, oftmals im Zusammenhang mit Diskussionen über unsere Eigenbezeichnung und unser selbstverständliches Recht, so genannt zu werden, wie wir uns selbst bezeichnen.
Gerade die jüngsten Debatten und die öffentliche Empörung, die rund um die WDR-Unterhaltungssendung „Die Letzte Instanz“ entstanden sind, haben gezeigt, dass es in Bezug auf rassistische Sprache in großen Teilen unserer Gesellschaft mittlerweile zu einem Umdenken und zu einer Bewusstseinsbildung zu kommen scheint. Dies ist nicht zuletzt auch ein Verdienst vieler junger Menschen, die hier auf Missstände hinweisen und mutig genug sind, diese öffentlich zu machen. Das begrüßen wir sehr.
Wir stellen allerdings fest, dass die Sprache im Zuge dieser Diskussionen – auch von Seiten einiger Aktivistinnen und Aktivisten – immer stärker zu einer Spaltung beiträgt, anstatt diese Spaltung zwischen der Minderheit und der Mehrheit zu überwinden. Wenn in Diskussionen und Debatten Begriffe geprägt werden, die die Gesellschaft in „Wir“ und „Die anderen“ einteilen, dann sind wir äußerst besorgt. Debatten um Begrifflichkeiten wie beispielsweise „Gadje-Rassimus“, der ausdrückt, alle Nicht-Sinti und Roma wären rassistisch, zeigen, dass hier, nicht die richtigen Schlüsse gezogen werden.
Der Begriff „Antiziganismus“ wurde bewusst vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma über eine lange Zeit gegenüber Politik und Öffentlichkeit durchgesetzt. Er beschreibt die jahrhundertealte Tradition von Feindschaft und Ablehnung gegen die von der Mehrheitsgesellschaft als „Zigeuner“ bezeichneten Personen oder Gruppen sowie die daraus folgenden Diskriminierungen, Ausgrenzungen und Angriffe in vielen Ländern Europas. Nicht nur durch seine sprachliche Nähe zum „Antisemitismus“ weist der Begriff „Antiziganismus“ schlagartig auf die jahrhundertealte Geschichte von Gewalt gegen unsere Minderheit hin, die wie bei den Juden auch zu Übergriffen und Pogromen führte.
„Antiziganismus“ ist der einzige wissenschaftlich fundierte Begriff, der das Konstrukt des „Zigeuners“ und die damit verbundene Gewalt mit bedenkt.
Die Bürgerrechtsarbeit des Zentralrats der Sinti und Roma, die seit fast 50 Jahren die Anerkennung unserer Minderheit vorangetrieben hat und noch immer vorantreibt, hat nicht die Aufgabe, Speisekarten zu säubern, die Kultur in den Opernhäusern wie den „Zigeunerbaron“ oder Carmen umzubenennen oder die Welt in „Weiße“ und „Nicht-Weiße“ aufzuteilen. Es geht darum gemeinsam mit allen Menschen gegen institutionellen Rassismus einzutreten, gegen die Benachteiligung von Angehörigen unserer Minderheit im gesellschaftlichen Leben vorzugehen und den dafür ursächlichen Antiziganismus in den Köpfen zu bekämpfen.
Ich möchte es hier in aller Deutlichkeit sagen: Die großen Erfolge der Bürgerrechtsarbeit des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma in den vergangenen Jahrzehnten waren nur möglich, weil sich Sinti und Roma und viele Nicht-Sinti und Roma gemeinsam dem über Jahrhunderte tradierten Antiziganismus entgegengestellt haben. So haben auch diejenigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Zentralrat, die keine Angehörigen der Minderheit sind, einen wesentlichen Beitrag zu diesem Erfolg geleistet.
Der Hungerstreik von Dachau 1980 wurde von zwölf Sinti und Roma, darunter fünf Überlebende des Holocaust initiiert, konnte aber nur durch die Unterstützung und die Solidarität von Mitstreiterinnen und Mitstreitern aus der Mehrheitsgesellschaft seine volle Wirkung entfalten. Die Anerkennung des Holocaust an den 500 000 Sinti und Roma in Europa ist die direkte Folge dieser beharrlichen Auseinandersetzungen um die Versäumnisse der Vergangenheit.
Wir haben viel erreicht. Die Aufgabe Menschenrechte durchzusetzen, ist nicht nur eine Aufgabe unserer Minderheit, sondern eine Aufgabe, der wir uns alle gemeinsam und mit aller Kraft in Europa und der Welt stellen müssen.
Wir alle sind dazu aufgerufen, uns gegen jegliche Versuche uns gegeneinander auszuspielen entschieden zur Wehr zu setzen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob man der Mehrheit oder einer Minderheit angehört. Wir Sinti und Roma leben seit mehr als 600 Jahren in Deutschland und sind in erster Linie Deutsche. Unsere nationale Identität als Deutsche steht in keinem Widerspruch zu unserer kulturellen Identität.
Den Kampf gegen Antiziganismus, Antisemitismus, Rassismus und jede Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit können wir nur gewinnen, wenn wir uns alle unterschiedslos und gemeinsam gegen die zunehmenden Spaltungsversuche unserer Gesellschaft stellen und die Wertschätzung unserer Verfassung und unseres Grundgesetzes nach dem Zivilisationsbruch durch die Nazidiktatur verteidigen.“