Mit der Einsetzung der Unabhängigen Kommission Antiziganismus durch die Bundesregierung 2019 wurde eine langjährige Forderung des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma umgesetzt, sich aus der historischen Verantwortung heraus der Bekämpfung des Antiziganismus zu widmen.
Dass sich die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag heute mit dem Bericht der Kommission und deren Handlungsempfehlungen befassen, ist ein wichtiger Schritt für die Minderheit und ebenso für die demokratische Verfasstheit unserer Gesellschaft.
Am 22. März 2019 beschäftigte sich der Deutsche Bundestag erstmalig mit dem Thema und nahm den Antrag „Antiziganismus bekämpfen“ der Koalitionsparteien CDU/CSU und SPD mehrheitlich an. Damit wurde die Einsetzung einer unabhängigen Expertenkommission beschlossen, welche eine systematische Bestandsaufnahme aller Erscheinungsformen des Antiziganismus erarbeiten und der Bundesregierung konkrete Handlungsempfehlungen zu dessen Bekämpfung vorlegen sollte.
Nach 2-jähriger Arbeit hat die Unabhängigen Kommission Ende März 2021 nun einen mehr als 800-Seiten umfassenden Bericht mit über 60 Empfehlungen und sechs zentralen Forderungen vorgelegt. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma begrüßt ausdrücklich die in dem nun vorliegenden Abschlussbericht formulierten Empfehlungen der Kommission, die den Forderungen des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma in wesentlichen Punkten folgen. Die Ergebnisse des Berichts der UKA bestätigen weitestgehend die Ergebnisse der vom Zentralrat in Auftrag gegebenen Expertisen, Gutachten und Studien zu Antiziganismus sowie die seiner Monitoringberichte zur Umsetzung des ‚EU-Rahmens für nationale Strategien zur Integration der Roma‘ in Deutschland.
Die Umsetzung der Empfehlungen zur Bekämpfung des Antiziganismus wird Bund, Länder und Gemeinden ebenso wie die Zivilgesellschaft vor erhebliche Herausforderungen stellen, denn er zeigt zweierlei:
Zum einen stellt die UKA fest, dass Antiziganismus in Deutschland als Normalität gilt und als Normalität wahrgenommen wird, dass also ein Bewusstsein und die Wahrnehmung für das Bestehen massiver Diskriminierungen von Sinti und Roma in nahezu allen Lebensbereichen fast vollständig fehlen. Zum anderen zeigen die Empfehlungen des Berichts, dass die Bekämpfung von Antiziganismus kaum auf entsprechende Instrumente, Materialien oder Einrichtungen aufbauen kann. Weder für Schulen noch für die Einrichtungen der politischen Bildungsarbeit gibt es entsprechende Vorgaben.[1]
Antiziganismus gehörte vielmehr in einer Reihe von staatlichen Einrichtungen – zu nennen sind hier vor allem die Landeskriminalämter und das Bundeskriminalamt – zur Grundhaltung vieler Mitarbeitender, durch die die gesamte Minderheit in Deutschland nach dem Krieg systematisch kriminalisiert und aus der Gesellschaft weitgehend ausgegrenzt worden war. Bis heute ist Antiziganismus in staatlichen Behörden und Handeln zu finden.
Der Bericht macht mit anderen Worten deutlich, dass die institutionelle Bekämpfung des Antiziganismus nahezu bei null ansetzt und in den vergangenen Jahrzehnten fast ausschließlich durch zivilgesellschaftliche Akteure wie den Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, weitere Betroffenenverbände und deren Unterstützende geleistet wurde.
Hervorzuheben sind an dieser Stelle auch die vielfältigen Forschungsdefizite, auf die der Bericht verweist, insbesondere über die Entwicklungen in der Nachkriegszeit und das Zusammenspiel von Polizei- und Entschädigungsbehörden. Erst 2017 wurde überhaupt Antiziganismusforschung an einer deutschen Universität etabliert.
Insgesamt können dem Abschlussbericht der UKA viele positive Erkenntnisse entnommen werden: Dazu gehört, dass die Erscheinungsformen des Antiziganismus neu ausdifferenziert wurden. Dies stellt einen wichtigen Beitrag für die Theoriebildung des Antiziganismus dar und ist ein hilfreiches Instrument zur wissenschaftlichen Einordnung antiziganistischer Phänomenbereiche.
Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma unterstützt voll und ganz die Forderung der Kommission nach Berufung einer_eines Beauftragten gegen Antiziganismus, der als Teil der Exekutive Maßnahmen zur Überwindung des Antiziganismus und Prävention ressortübergreifend koordinieren soll. Ein_e solche_r Beauftragte_r ist aus Sicht des Zentralrats essentiell. Unabdingbar ist dabei, dass neben ausreichend finanziellen Ressourcen und Handlungskompetenz der_die Beauftragte gegen Antiziganismus mit einem Arbeitsstab ausgestattet werden muss, dessen Mitglieder ebenfalls eine große Expertise in den Bereichen der Antiziganismusprävention mitbringen.
Da ein großer Teil der UKA-Empfehlungen von den Ländern umgesetzt werden muss, ist die Einsetzung einer Bund-Länder-Kommission ebenfalls von größter Wichtigkeit. Hierbei muss klar sein, dass diese Aufgaben zuerst in den staatlichen Kompetenzbereich fallen. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma ist deshalb der Auffassung, dass für die Besetzung der Positionen des/der Antiziganismus-Beauftragten in Bund oder Ländern zuerst die Qualifikation der betreffenden Personen stehen muss und dabei die Zugehörigkeit zur Minderheit oder Mehrheit unerheblich ist. Eine Besetzung solcher Positionen vorrangig mit Angehörigen der Minderheit würde auch bedeuten, dass die Zivilgesellschaft ihre wichtigsten Aufgaben an staatliche Einrichtungen übergibt und sich damit gleichsam überflüssig machen würde. Die Zivilgesellschaft muss aber auf allen Ebenen in die Arbeit der Antiziganismus-Beauftragten eingebunden werden.
Auch die Forderungen der Kommission nach einer Anerkennung des Grundsatzes der kollektiven Verfolgung aus rassischen Gründen von 1933-1945, der Einrichtung eines Sonderfonds für niederschwellige, einmalige Anerkennungsleistungen für NS-Verfolgte Sinti und Roma und der Einrichtung einer Kommission zur Aufarbeitung des Unrechts nach 1945 werden vom Zentralrat ausdrücklich unterstützt. Ebenso die Anerkennung geflüchteter Roma als besonders schutzwürdige Gruppe sowie die Forderung nach verbesserten Partizipationsstrukturen für Sinti und Roma, insbesondere durch die Entsendung von Minderheitenangehörigen in staatliche Gremien, wie die Rundfunkräte und Landesmedienanstalten.
An die nächste Unabhängige Expertenkommission Antiziganismus, die der kommenden Bundesregierung berichten wird, appellieren wir, die Bereiche Entschädigung und Polizei stärker in den Blick zu nehmen; hier besteht aus Sicht des Zentralrats weiterer Forschungsbedarf. So muss untersucht werden, inwieweit der polizeiliche Begriff „Clankriminalität“ als ein Schlupfloch für eine verfassungswidrige Minderheitenkennzeichnung genutzt wird. Auch die Staaten des Westbalkans müssen genauer untersucht werden, da auch der dort existierende Antiziganismus direkt die Verhältnisse in den Staaten der Europäischen Union und somit auch in Deutschland beeinflussen.
Eine wirksame Umsetzung der Empfehlungen bedarf einer systematischen Implementierung durch eine Strategie. Der Zentralrat fordert die Bundesregierung auf, einen „Aktionsplan bzw. bundesweiten strategischen Rahmen für die Bekämpfung von Antiziganismus und die gleichberechtigte Teilhabe von Sinti und Roma“ zur Umsetzung der EU-Strategie in Deutschland zu entwickeln und zu beschließen. Ein besonderer Schwerpunkt ist dabei auf die Partizipation von Sinti und Roma in allen relevanten Prozessen und auf allen Ebenen, u.a. in der Vorbereitung, Umsetzung und Evaluation/Monitoring des strategischen Rahmens zu legen. Notwendiger Schritt in diesem Prozess ist die Einrichtung einer unabhängigen Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA). Diese Stelle hat neben der Dokumentation von Vorfällen auch die Aufgabe, Erscheinungsformen und Ausprägungen von Antiziganismus und antiziganistische Straftaten sowie die spezifischen Problemlagen und die Folgen für die Betroffenen zu untersuchen.
Zu den Ergebnissen im Einzelnen:
Die Arbeit der UKA stellt den bisher umfangsreichsten und anspruchsvollsten Versuch dar, die vielfältigen Erscheinungsformen und Dimensionen des Antiziganismus in Deutschland wissenschaftlich und politisch aufzuzeigen.
Die Unabhängige Kommission Antiziganismus hat nachdrücklich festgestellt, dass:
- Antiziganismus ein eigenständiges Macht- und Gewaltverhältnis darstellt, das sich über Jahrhunderte ausgeprägt hat und von anderen Formen rassistischer Diskriminierung deutlich zu unterscheiden ist.
- Antiziganismus ein strukturell und institutionell in der europäischen Moderne angelegtes vielschichtiges Phänomen ist, welches sich historisch überlagert und flexibel an veränderte gesellschaftliche Bedingungen anpasst.
- sich die Auswirkungen des NS-Völkermords wie ein roter Faden durch die bundesrepublikanische Geschichte nach 1945 ziehen. Bis heute fehlt es an einer breiten, gesellschaftlichen Initiative zur Revision von nach 1945 fortwirkenden antiziganistischen Deutungs- und Handlungsmustern sowie von institutionellen Diskriminierungsmechanismen gegenüber der Minderheit.
- die Erinnerung an und Aufarbeitung des Völkermords an den Sinti und Roma und die Auseinandersetzung mit seinen Nachwirkungen zentrale Bezugspunkte für das Verständnis von Antiziganismus heute sein müssen.
- die Erfahrungen der von Antiziganismus Betroffenen im öffentlichen Diskurs nahezu unsichtbar sind.
- Der Völkermord bis heute keinen Eingang ins kollektive Gedächtnis gefunden hat.
Zentrale Befunde des Berichtes:
Die UKA greift mit dem Punkt „Nachholende Gerechtigkeit“ im Titel des Berichtes das Unrecht auf, das Sinti und Roma auch nach 1945 weiter zugefügt wurde. 76 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs sind Sinti und Roma immer noch nicht als kollektiv Verfolgte anerkannt; ihnen zugefügtes Unrecht ist bis heute nicht angemessen aufgearbeitet und entschädigt worden. Eine Entschädigung für dieses Unrecht, das Sinti und Roma zugefügt wurden, wenn auch sehr verspätet, ist ein unerlässlicher Bestandteil einer Aufarbeitung und Wiedergutmachung seitens der Bundesrepublik.
Der Zentralrat betrachtet die Entschädigung als nicht abgeschlossen und hat vier Forderungen:
- Erstens muss die Festsetzung[2] endlich als spezifische nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahme anerkannt werden und zu einer laufenden Entschädigungszahlung berechtigen.
- Zweitens muss die Berechtigung auf eine laufende Entschädigungsleistung von der deutschen Staatsangehörigkeit entkoppelt werden.
- Drittens müssen die Überlebenden, deren Kindheit in besonderer Weise beeinträchtigt und traumatisierend war (z.B. Verlust der Eltern, Aufenthalt im KZ u.a.), eine zusätzliche Einmalzahlung in Anerkennung „der geraubten Kindheit“ erhalten.
- Und viertens muss der krankenversicherungsrechtliche Status von Hinterbliebenen dauerhaft gesichert sein.
Um die vielfältigen Erscheinungsformen des Antiziganismus näher zu untersuchen, hat die UKA 15 Einzelstudien in Auftrag gegeben.
Befunde zu Rassismuserfahrungen
Eine der bedeutendsten Einzelstudien stellt die „Studie zu Rassismuserfahrungen von Sinti:ze und Rom:nja in Deutschland,“ dar, in der Betroffene zu ihren Erfahrungen mit Antiziganismus insbesondere beim Zugang zu Bildungsinstitutionen, zum Arbeits- und Wohnungsmarkt, zur Gesundheitsversorgung sowie beim Umgang mit der öffentlichen Verwaltung und mit Trägern der Sozialen Arbeit berichten. Eines der wichtigsten Ergebnisse ist hierbei der Befund der Transgenerationalität von Trauma und Unrechtserfahrungen, der zeigt, dass antiziganistische Übergriffe und Diskriminierung in der Gegenwart auch bei den nachfolgenden Generationen seelische Erschütterungen erzeugen, die an die NS-Verfolgung und Unrechtserfahrung nach 1945 der Vorfahren anknüpfen.
Die Erfahrungen mit Antiziganismus, so die Erkenntnisse der Studie, sind darüber hinaus transnational, da zugewanderte Roma antiziganistische Diskriminierung und Rassismus nicht nur in ihren Heimatländern, sondern auch in Deutschland erfahren, und intersektional, weil sie weitere Aspekte wie Sprache, sozialen Status und Geschlecht umfassen
Antiziganismus wirkt, so zeigt der UKA Bericht, als Sozialisationsinstanz; er prägt das ganze Leben der Betroffenen von der Kindheit, insbesondere vom Schuleintritt an. Die Erfahrungen mit Antiziganismus bleiben dabei in der Regel unsichtbar, weil die Betroffenen keine Stimme in der Öffentlichkeit finden. Erfahrungen mit Antiziganismus spiegeln ein Machtverhältnis wieder, indem Grundrechte von Betroffenen verletzt bzw. eingeschränkt werden: Rassismus führt dazu, dass die Polizei nicht schützt, Ärzte nicht behandeln und Schulen nicht bilden.
Befunde zu institutionellen Antiziganismus
Eine weitere wichtige Einzelstudie der UKA wurde zu „Mechanismen des institutionellen Antiziganismus: Kommunale Praktiken und EU-Binnenmigration am Beispiel einer westdeutschen Großstadt durchgeführt“. Hier wurden vor allem die Bereiche Schule, Polizei und öffentliche kommunale Verwaltung analysiert. Für das Schulwesen zeigt der Bericht eindrücklich auf, wie offen Antiziganismus durch Lehrkräfte und Schulpersonal zum Ausdruck gebracht und wie wenig insbesondere auf die Bedürfnisse von Schüler_innen aus benachteiligten oder migrantischen Familien eingegangen wird, wovon insbesondere Kinder zugewanderter Roma betroffen sind.
Als besonderes Problem im Bildungswesen und der Schule erweist sich die (Nicht-) Behandlung von Antiziganismus und der (Verfolgungs-) Geschichte von Sinti und Roma in Lehrplänen und Schulbüchern. Antiziganismus ist in keinem von 197 untersuchten Lehrplänen aus 16 Bundesländern explizit Unterrichtsthema. Darüber hinaus wird die Verfolgungsgeschichte als abgeschlossenes Kapitel der Geschichte dargestellt, das fortwirkende Unrecht nach 1945 und die Nachwirkungen der Verfolgungsgeschichte in der Gegenwart werden indes nicht thematisiert. Zudem werden Sinti und Roma äußerst selten als Teil der Gesellschaft und als anerkannte nationale Minderheit dargestellt. Die UKA empfiehlt daher, eine explizite Thematisierung von Alltagsrassismus und Antiziganismus, der Kontinuitäten der Stigmatisierung und Ausgrenzung nach 1945, von Widerstand und Bürgerrechtsbewegung sowie gegenwärtige Auswirkungen von Antiziganismus in Lehrpläne und Schulbücher aufzunehmen.
Der Zentralrat fordert seinerseits seit geraumer Zeit, dass die Konferenz der Bildungsminister (KMK) ein ständiges Koordinierungsgremium für Bildung zwischen den staatlichen Ministerien, den Selbstorganisationen der Sinti- und Roma und weiteren wichtigen Interessengruppen einrichten soll.
Herausgearbeitet wurde zudem, wie Antiziganismus in kommunalen Behörden wirkt: So kommt es bei Kontakt mit Ordnungs- Sozialbehörden, Polizei, Jugend- und Wohnungsämtern, Jobcentern und Arbeitsagenturen, beim Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung regelmäßig zu Verletzungen von Grundrechten.[3]
Antiziganismus bei der Polizei stellt einen der bedeutenden und historisch tradierten Teilbereiche des gesamtgesellschaftlichen Phänomens Antiziganismus dar. Der UKA-Bericht kritisiert die bis heute fehlende Forschung und tiefergehende historische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der polizeilichen Institutionen. Insbesondere zur nationalsozialistischen „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“, ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, und deren Fortwirken nach 1945 liegt bis heute keine wissenschaftliche Untersuchung vor.
Die von der UKA in Auftrag gegebene Einzelstudie zu „Tödliche Polizeigewalt gegenüber Sinti und Roma von 1945 bis 1980“ konnte fünf Fälle von Schüssen auf Sinti und Roma durch die Polizei mit Todesfolge rekonstruieren. Die Studie zeigt, dass alle Todesschützen freigesprochen wurden, während gegen die Angehörige der Getöteten, die zum Teil selbst erheblich durch Polizeikugeln verletzt wurden, Ermittlungen wegen Widerstand und Körperverletzung geführt wurden.
Die Studie belegt, dass es bis heute vielfältige Hinweise für eine fortgesetzte und systematische Diskriminierung von Sinti und Roma durch die Polizei gibt. Der UKA-Bericht knüpft an die Ergebnisse der im Auftrag des Zentralrates erstellten Expertise zum Antiziganismus in der Polizei[4] sowie den Monitoringbericht des Zentralrats aus dem Jahr 2018 an[5]. Dieser hat gezeigt, dass sich antiziganistische Praktiken bei der Polizei in mangelhaften und vorurteilsbehafteten Ermittlungsstrategien manifestieren und sogenanntes Expertenwissen, einschließlich rassifizierenden und rassistischen „Ermittlungscodes“, racial profiling und antiziganistische Diskurse in der Polizei tradiert und in der Kommunikation nach innen und außen verbreitet werden.
Minderheiten sind in Deutschland in besonderem Maße auf die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien angewiesen, gerade durch die Polizeibehörden. Deshalb müssen in der Aus- und Weiterbildung der Beamtinnen und Beamten Geschichte und Gegenwart von Sinti und Roma aufgenommen werden. Seit 2020 besteht eine Kooperation zwischen Zentralrat und der Hochschule des BKA, im Rahmen der Diversitäts- und Antirassismus-Lehrveranstaltungen finden regelmäßige Workshops zum Thema Antiziganismus statt. Die Kooperation wird auch in der Zukunft fortgesetzt und fester Bestandteil der Bildungsangebote in dem Themenbereich. Zudem besteht eine Kooperation im Ausbildungsbereich mit der Berliner Polizeiakademie und der Bundespolizei.
Befunde zu Antiziganismus in Medien
Der Bericht der UKA widmet sich auch der Frage, wie antiziganistische Bilder durch Literatur und Medien reproduziert werden. Dabei knüpft die UKA an die Ergebnissen der vom Zentralrat in Auftrag gegebenen Gutachten und Studien zu Medien[6] und Film an.[7] Dort wurde gezeigt, dass antiziganistische Stereotype in Form klischeehafter Darstellungen von Sinti und Roma in deutschen Medien eine jahrzehntelang geübte Praxis darstellen, die zu einer andauernden Stigmatisierung und Diskriminierung der Minderheit beiträgt. Die UKA knüpft an die langjährige Forderung des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma an, Vertreter_innen der Sinti der Roma an Verwaltungs- und Aufsichtsgremien und der Programmgestaltung zu beteiligen und einen kritischen Austausch mit den Selbstorganisationen zu etablieren und zu verstetigen.
Befunde zu Antiziganismus in der Politik
Die UKA hat zudem ein bisher kaum erforschtes Feld in den Blick genommen, nämlich den Antiziganismus in der Politik. Auf der Grundlage einer durch die UKA durchgeführte Befragung unter politischen Parteien, einer Analyse von Bundestagsdebatten und dem politischen Agendasetting bei Wahlkampagnen, wird die Tradierung von antiziganistischen Bildern, Narrativen und Diskursen in der Politik beleuchtet. Bundestagsdebatten und Agendasetting sind in den letzten Jahren von der medialen Berichterstattung zum Zuzug von EU-Bürger_innen, hauptsächlich aus Bulgarien und Rumänien, und von der Ankunft von Asylsuchenden aus den Westbalkanländern, die in medialen Diskursen als „Armutsmigranten“ und „Nutznießer des Wohlfahrtsstaats“ stigmatisiert wurden, stark beeinflusst. Der Zentralrat sieht hier dringend weiteren Forschungsbedarf. Nachfolgende Forschungsprojekte sollten sich befassen mit:
- staatlichen Strukturen und Entscheidungen, durch die strukturelle Diskriminierung, insbesondere gegen benachteiligte Sinti und Roma, gestärkt wird;
- antiziganistischen politischen Diskursen auf Bundes, Länder und kommunaler Ebene;
- deutscher Außenpolitik, insbesondere in Bezug auf den Westbalkan , wodurch die strukturelle und unmittelbare Diskriminierung sowie Antiziganismus gefördert bzw. gehemmt werden;
- Unterrepräsentierung von Sinti und Roma in politischen Parteien und staatlichen Institutionen.
Befunde im Bereich Wissenschaft
Kritisch beleuchtet hat die UKA zudem auch den Bereich der Wissenschaften und sich mit einer externen Studie einem bislang kaum beachteten und kritisierten Bereich der Wissenschaft, der Genetik, gewidmet. In der Untersuchung „Rom*nja als Proband*innen in genetischen Studien“ wird aufgezeigt, wie Roma Gegenstand der genetischen Forschung werden. Besorgniserregend ist hierbei der Umgang mit den erhobenen Daten und die fehlenden ethischen Standards in der Forschung. Daten aus biomedizinischen und populationsgenetische Studien werden etwa auch in der forensischen Forschung genutzt, womit unter anderem verzerrte Ergebnisse produziert werden. Die Wissenschaft hat eine wesentliche Rolle bei der (Re-)Produktion und Tradierung von antiziganistischen Bildern und Diskursen seit dem 18. Jahrhundert gespielt und zur Verfolgung und Ermordung von Sinti und Roma während des Nationalsozialismus beigetragen.
Zentrale Forschungsdesiderate
Der UKA Bericht zeigt, dass es Forschungsbedarf zu Antiziganismus auch in weiteren institutionellen und gesellschaftlichen Bereichen gibt. Der Zentralrat verweist auf ein wichtiges Forschungsdesiderat, etwa im Bereich Justiz. Es fehlen bislang tiefergehende Studien und Forschung zur historischen und gegenwärtigen antiziganistischen Rechtspraxis, von der bisher insbesondere Selbstorganisationen von Sinti und Roma punktuell berichten. Antiziganistische Diskriminierungseffekte im deutschen Strafverfahren sollen daher dezidiert wissenschaftlich untersucht werden.
Ein weiteres Forschungsdesiderat stellt der Zusammenhang zwischen Antiziganismus und Rechtsextremismus dar. Antiziganistische Diskurse in der Ideologie rechtsextremer Organisationen, rechtsextreme Gewalt gegen Sinti und Roma und antiziganistische Hassreden im Internet sollten von der Forschung näher untersucht werden.
Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma begrüßt die notwendige Auseinandersetzung mit der Situation nach Deutschland geflüchteter Roma aus den sogenannten „sicheren Herkunftsstaaten“ des Westbalkans und unterstützt im Allgemeinen die diesbezüglichen Empfehlungen der UKA. Der Zentralrat hätte sich mit Blick auf die Situation in den sogenannten „sicheren Herkunftsstaaten“ jedoch eine deutlichere Positionierung gewünscht, die klar macht, dass der strukturelle und unmittelbarer Antiziganismus der Grund für den gesellschaftlichen Ausschluss und für die perspektivlose Lage der überwiegenden Mehrheit der Roma in diesen Ländern ist. Und dass nur eine konsequente Bekämpfung des Antiziganismus, die mit sozioökonomischen Maßnahmen unterstützt werden muss, zu einer Verbesserung der Lage der Roma in den Staaten des Westbalkans führen kann. Dies beinhaltet auch, dass sowohl die Auswirkungen des strukturellen Antiziganismus und der kumulativen Diskriminierung auf eine „Rückkehr- bzw. Reintegrationsperspektive“ stärker hätten thematisiert werden müssen, als auch die Möglichkeiten und Verpflichtungen Deutschlands, auf eine Verbesserung der Lage der Roma hinzuarbeiten.
Fazit und Ausblick:
Die Umsetzung der Empfehlungen der Unabhängigen Kommission Antiziganismus fällt der künftigen Bundesregierung zu. Diese sollten daher im Koalitionsvertrag der künftigen Regierungsparteien verankert werden. Zu Beginn der neuen Legislaturperiode sollte ein umfassender Entschließungsantrag gestellt werden, der wegweisend für die Umsetzung der zentralen Forderungen, insbesondere der Einrichtung der Stelle des Bundesbeauftragten zu Antiziganismus, durch die Bundesregierung sein soll.
Die Handlungsempfehlungen sollen in eine bundesweite Strategie für die Bekämpfung von Antiziganismus und die gleichberechtigte Teilhabe von Sinti und Roma aufgenommen werden, die unter Beteiligung aller relevanter Akteure, insbesondere Selbstorganisationen, erarbeitet, beschlossen und umgesetzt werden muss. Zu diesem Zweck sollte eine Koordinationsstelle auf Regierungsebene mit entsprechenden Ressourcen und Kompetenzen eingerichtet werden. Die Bundesregierung sollte ebenfalls einen Staatsvertrag zur gesellschaftlichen Teilhabe von Sinti und Roma und zur Bekämpfung von Antiziganismus mit dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma schließen, um die Bekenntnis der Bundesregierung zur Anerkennung der Minderheit und zur Wiedergutmachung des den Sinti und Roma zugefügten Unrechts vertraglich festzulegen.
[1] Dass Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma arbeitet daher gemeinsam mit der Kultusministerkonferenz gegenwärtig an ersten Empfehlungen zum Thema „Sinti und Roma und Schule“
[2] Mit dem Festsetzungserlass von Himmler vom 17. Oktober 1939 war es Sinti und Roma im Gebiet des deutschen Reiches verboten, sich von dem Ort, an dem sie sich zum Zeitpunkt der Erfassung befanden, zu entfernen. Die sogenannte Festsetzung diente als Grundlage für polizeiliche Erfassung sowie nachfolgende rassenbiologische Untersuchungen. Festsetzung hatte eine rassenpolitische Zielsetzung: die Vorbereitung der späteren Deportationen und der physischen Vernichtung der Sinti und Roma. Die mit einer Festsetzung verbundenen massiven psychischen Belastungen verursachten potentiell schwerwiegende gesundheitliche Nachwirkungen, auch auf die nachfolgenden Generationen.
Die Bundesregierung hat die Festsetzung bis heute nicht als spezifische nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahme anerkannt. Überlebende Sinti und Roma, die die in ihrer Kindheit die Festsetzung erlebt und überlebt haben, erhielten bis zum heutigen Tage keine laufende Entschädigungsleistung.
[3] Der Zentralrat hat einen Monitoringbericht zum Antiziganismus in der Verwaltung und in der Sozialen Arbeit 2020 veröffentlicht: https://zentralrat.sintiundroma.de/zentralrat-veroeffentlicht-dritten-monitoringbericht-antiziganismus/
[4] Link zur Expertise: https://zentralrat.sintiundroma.de/kurzexpertise-antiziganistische-ermittlungsansaetze-in-polizei-und-sicherheitsbehoerden/
[5] Link zum Monitoringbericht 2018: https://zentralrat.sintiundroma.de/wp-content/uploads/2019/11/monitoring_2017_final.pdf
[6] Links zum Gutachten zum Antiziganismus in der Öffentlichkeit: https://dokuzentrum.sintiundroma.de/wp-content/uploads/2019/12/140000_Langfassung_Studie_Antiziganismus.pdf
Und zum Antiziganismus im Fernsehen : https://zentralrat.sintiundroma.de/der-film-roma-ein-volk-zwischen-armut-und-angeberei-vorurteilsdominiertes-sensationsfernsehen
[7] Link zum Gutachten zum Kinder- und Jugendfilm „Nellys Abenteur“: https://zentralrat.sintiundroma.de/gutachten-zum-kinder-und-jugendfilm-nellys-abenteuer/
Und zu Antiziganismus im Film: https://zentralrat.sintiundroma.de/tagungsband-antiziganismus-und-film-erschienen/