Stellungnahme des Zentralrats zum Referentenentwurf für ein Gesetz zur Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts

Stellungnahme des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma zum Referentenentwurf des Bundesministeriums des Innern und für Heimat für ein Gesetz zur Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts
 
Stellungnahme vom 16. Juni 2023
 
Historische Dimension der Ungleichbehandlung von Sinti und Roma im Staatsangehörigkeitsrecht: Vorangestellt werden einige Hinweise auf die historische Dimension des  NS-Unrechts vor 1945 und der “zweiten Verfolgung” nach 1945 in Bezug auf die Ungleichbehandlung der Sinti und Roma in der Nachkriegsgeschichte auch im Staatsangehörigkeitsrecht. Die Verweigerung und Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit für Sinti und Roma während des Nationalsozialismus setzte sich in der behördlichen Praxis nach 1945 fort, indem beispielsweise die verfolgungsbedingte Staatenlosigkeit ignoriert wurde. Sinti und Roma wurde unterstellt, dass sie aufgrund ihrer angeblich „ethnischen Unterschiede“ keine Deutschen sein könnten und dass sie aufgrund ihrer „nichtsesshaften Lebensweise“ vor 1933 keine Staatsangehörigkeit eines deutschen Einzelstaates erwerben konnten. Hierzu wird auf Kapitel 3 „Hinterlassenschaften des NS-Völkermordes“ des Berichts der vom Bundesinnenministerium eingesetzten Unabhängigen Kommission Antiziganismus „Perspektivwechsel. Nachholende Gerechtigkeit. Partizipation“, S. 75 ff, S. 92 sowie S. 214 verwiesen. Wir zitieren wie folgt:
 
„Die Bestimmungen des Grundgesetzes wurden bei Sinti und Roma nicht nur deshalb nicht angewandt, weil die verfolgungsbedingte Staatenlosigkeit ignoriert wurde. Vielmehr wurde hier das Abstammungsprinzip („ius sanguinis“) geltend gemacht, das dem deutschen Staatsangehörigkeitsrecht bis zu seiner Reform im Jahr 1999 zugrunde lag: Es beruhte auf einer ethnisch, kulturell und nach Sitten und Gebräuchen homogen gedachten Bevölkerung. Sinti und Roma wurde sowohl unterstellt, dass sie aufgrund ethnischer Unterschiede keine Deutschen sein könnten, als auch, dass sie schon vor 1933 aufgrund ihrer „nichtsesshaften Lebensweise“ keine Staatsangehörigkeit eines der deutschen Einzelstaaten hätten erwerben können. Dies hatte zur Folge, dass selbst solchen Sinti, die ihre Vorfahren anhand von Urkunden bis ins 18. Jahrhundert zurück als in Bayern oder Württemberg ansässig nachweisen konnten, nach 1945 die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen wurde. Überlebende wurden dazu gezwungen, über viele Jahre hinweg Einbürgerungsverfahren anzustrengen, doch in zahlreichen Fällen blieb selbst eine Klage vor Gericht erfolglos.
 
Schwer benachteiligt wurden auch diejenigen, die erst spät wieder nach Deutschland zurückkehrten. So wurde ein 1940 aus Köln deportierter Mann bei seiner Heimkehr aus Polen im Jahre 1972 nicht als Deutscher anerkannt, obwohl er nach Art. 116 Abs. 2 GG einen Anspruch darauf gehabt hätte, bei der Wiedereinreise in die Bundesrepublik seine deutsche Staatsangehörigkeit ohne Umstände zurückzuerhalten. Stattdessen drängte die Behörde ihn und seine mit ihm eingereisten Kinder in ein Asylverfahren. Sinti, die aus den „ehemaligen deutschen Ostgebieten“ in die Bundesrepublik übersiedelten, wurde der Status als „Aussiedler“ verweigert, der eine erleichterte Einreise und Rückkehrhilfen bedeutet hätte. Ihnen wurde unterstellt, sie seien als Sinti nicht „deutschstämmig“. Es wurde sogar argumentiert, sie hätten es während der NS-Zeit versäumt, sich in die von der SS geführten „Deutschen Volkslisten“ eintragen zu lassen – obwohl Sinti aufgrund der NS-Rassenpolitik als „nicht Deutschblütige“ davon ausdrücklich ausgeschlossen waren. […]
 
Die spezifische, auf rassistischen Annahmen gründende Verweigerung beziehungsweise Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit für Sinti und Roma, die während des Nationalsozialismus und mit der antiziganistisch geprägten behördlichen Praxis nach 1945 etabliert wurde, bedarf einer grundlegenden Revision.“
 
Mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts müssen die erheblichen Auswirkungen der vielfältigen nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungsmaßnahmen gegenüber Sinti und Roma berücksichtigt werden. Neben der kollektiven Verfolgung und dem systematischen Vernichtungswillen gegenüber der gesamten Minderheit der Sinti und Roma sind insbesondere Fälle von Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit nach 1945 von Bedeutung.
 
Forderungen und Empfehlungen
*Anerkennung der Analyse und Umsetzung der Empfehlungen der Unabhängigen Kommission Antiziganismus, unter anderem:
 
*Anerkennung der im NS-Staat erfolgten und nach 1945 fortgesetzten Ausbürgerungen von Sinti und Roma als Unrecht: Es sollte angemessen auf die historische Bedeutung der Verweigerung der deutschen Staatsangehörigkeit für Sinti und Roma im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht im Sinne der Gewährleistung von Sicherheit und Schutz von Sinti und Roma als historische Verantwortung Deutschlands eingegangen werden.
 
*Ermöglichung der erleichterten Rückgabe und Anerkennung der deutschen Staatsangehörigkeit für Überlebende und Nachkommen: Es ist notwendig, Mechanismen zu schaffen, um den Verlust von Identitätsnachweisen aufgrund der NS-Verfolgung anzuerkennen, wobei, abweichend von den Fällen mit staatsangehörigkeitsrechtlichem Wiedergutmachungsgehalt, die bloße plausible Glaubhaftmachung ohne die Möglichkeit eines Nachweises mittels Dokumente ausreichend sein sollte.
 
Staatsbürgerschaft von nach 1945 zugewanderten Menschen
 
Die angestrebte Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts betrifft aus Sicht des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma sowohl Sinti und Roma, die als Vertragsarbeitnehmer oder als Beschäftigte in prekären Arbeitsverhältnissen und /oder als sogenannte “Gastarbeiter” aus verschiedenen europäischen und außereuropäischen Staaten nach Deutschland eingewandert sind, als auch diejenigen, die seit den 1990er Jahren vor den Kriegen aus dem ehemaligen Jugoslawien geflohen sind. Der Kreis der möglichen anspruchsberechtigten Personen umfasst auch Nachfahren der Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung, wie im Kapitel 3.6. „Ausbürgerung aus dem Staatswesen“ des UKA-Berichts beschrieben.
 
Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma begrüßt die Ermöglichung der Mehrstaatigkeit, die Einbürgerung nach fünf oder drei statt acht Jahren sowie die Anerkennung der Leistung der sogenannten Gastarbeitergeneration.
 

Bei der Erfüllung der materiell-rechtlichen Einbürgerungsvoraussetzungen ist der Aufwand im Antragstellungsverfahren durch die Notwendigkeit der Vorlage der Ausbürgerungsurkunde für manche Sinti und Roma, die auch der sogenannten Gastarbeitergeneration angehören, erschwert. Daher wird der Wegfall der Notwendigkeit der Prüfung des Entlassungsbescheides des Herkunftsstaates begrüßt.

 
Forderungen und Empfehlungen
 
*Verleihung der Staatsbürgerschaft an in Deutschland geborene und aufgewachsene Roma, auch in sozialen Härtefällen;
 
*Abschaffung der faktischen Staatenlosigkeit.