Antiziganistische Straftaten müssen besser dokumentiert und verfolgt werden

Die Hemmschwelle Sinti und Roma in Deutschland anzugreifen, zu verletzen oder gar zu töten ist weiterhin sehr niedrig, wie die aktuellen Zahlen der Bundesregierung zu antiziganistischer Straftaten 2019 belegen. Seit 3 Jahren wird Antiziganismus als eigenständige Kategorie in der Statistik politisch motivierte Kriminalität (PMK) erfasst (Fallzahlen: 2017: 41; 2018: 63; 2019: 78) und die Fallzahlen zeigen eine stete Zunahme. Im letzten Jahr wurden auch zahlreiche Fälle von Köperverletzungen und zwei versuchte Tötungen dokumentiert.

Angesichts der geringen Anzahl dokumentierter Fälle antiziganistisch motivierter Kriminalität ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Nur ein Bruchteil der Straftaten wird von Betroffenen zur Anzeige gebracht oder von Strafverfolgungsbehörden als antiziganistisch motiviert angesehen. Betroffene haben oft kein Vertrauen in die Polizei, befürchten Nachteile für sich selbst oder Angehörige und stellen nur selten eine Anzeige. Zudem verhindert oft fehlendes Wissen über die Wirkungsmechanismen von Antiziganismus, dass Polizeibehörden Ermittlung bei antiziganistisch motivierten Straftaten aufnehmen.

Rechte Gewalt gegen Sinti und Roma

Im Jahr 2019 haben Polizeibehörden mindestens zwei Fälle bei denen eine Tötungsabsicht vorlag als antiziganistisch motiviert registriert. In beiden Fällen wurden die Opfer im Zuge des Angriffes rassistisch beleidigt und herabgewürdigt. In einem Fall wurde im letzten Jahr eine langjährige Freiheitsstrafe verhängt und die antiziganistische Motivation der Tat vom Gericht gewürdigt. Aber nicht immer sind Angriffe auf Sinti und Roma von laut geäußerten antiziganistischen Beleidigungen begleitet und werden dann oft nicht als Hasskriminalität anerkannt. 2018 schoss etwa ein Mann in Berlin-Friedrichshain auf das 7-jährige Nachbarskind einer Roma-Familie. Amaro Foro dokumentierte denn Fall in seinem Projekt DOSTA als antiziganistischen Vorfall. In der offiziellen PMK-Statistik tauchte dieser Angriff allerdings nicht auf.  

Aber auch wenn das Tatmotiv nicht explizit Antiziganismus ist, sind Sinti und Roma von rechter Gewalt betroffen. Im Februar 2020 tötete ein Rechtsterrorist in Hanau neun Menschen aus rassistischen Motiven. Unter den Todesopfern wie auch den Verletzten waren Angehörige der Sinti und Roma. Vier Jahre zuvor bei dem rassistischen Anschlag in München 2016 waren ebenfalls Sinti und Roma unter den Todesopfern und Verletzten. Bei dem Attentat im Olympia Einkaufszentrum in München 2016 wurde lange Zeit das rassistische Motiv des Täters ignoriert. Die Ermittlungsbehörden gingen von einem Einzeltäter mit psychischen Problemen aus und wollten keine politische Motivation erkennen können. Für Minderheiten, Geflüchtete und Zugewanderte ist es ein fatales Zeichen und führt zu starker Verunsicherung. Der Terrorakt von Hanau wurde vom Bundeskriminalamt als rassistische und rechtsextreme Tat eingestuft und die Betroffenen und Hinterbliebenen erhielten zeitnah Unterstützung aus dem Opferfonds der Bundesregierung. Die öffentliche Wahrnehmung von Sinti und Roma Opfern rechter Gewalt ist immer noch sehr gering und ihr Schicksal und die ihrer Hinterbliebenen bleiben meist unsichtbar. 

Vor der Tat steht das Wort

Aber nicht nur tätliche Angriffe nehmen rasant zu, auch der antiziganistische Hass im Netz ist in den letzten Jahren deutlichen stärker geworden. Vor allem in sozialen Netzwerken steigert sich der Hass, über Sinti und Roma werden wie kaum eine andere Gruppe Vernichtungsphantasien geäußert, die von einer außerordentlichen Dehumanisierung gekennzeichnet sind. Hierzu haben politische Akteure wie die AfD und ihr weggetauchter „Flügel“ maßgeblich beigetragen. Aber auch Medienberichte wie die von Sat1 ausgestrahlte Dokumentation „Roma. Ein Volk zwischen Armut und Angeberei“ schüren den Hass auf Sinti und Roma und vertiefen den in breiten Bevölkerungskreisen vorhandenen Antiziganismus. Die Stimmungsmache gegen Sinti und Roma, die auch die Hemmschwelle für tätliche Angriffe sinken lässt, wird jedoch bisher kaum von der Zivilgesellschaft als Problem angegangen, auch weil verlässliche Zahlen fehlen. Antiziganistische Hetze im Netz muss besser dokumentiert, gemeldet und strafrechtlich verfolgt werden.

Eine Struktur zur Dokumentation und Unterstützung für Betroffene

Die Erscheinungsformen und Ausprägungen von Antiziganismus und antiziganistischen Straftaten sowie die Folgen für die Betroffenen müssen besser untersucht werden. Antiziganismus ist tief in der deutschen Gesellschaft und auch in staatlichen Behörden verwurzelt, dass belegen seit Jahren einschlägige Bevölkerungsumfragen wie etwa die Autoritarismus-Studie der Universität Leipzig 2018.  Laut der Studie hätten 56% der Befragten Probleme mit Sinti und Roma in ihrer Gegend.

Eine zentrale Forderung des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma ist daher Strukturen zu schaffen, die antiziganistische Fälle dokumentieren, analysieren und Unterstützungsangebote für Betroffene ermöglichen. Zudem ist ein Prozessstandrecht und Verbandsklagerecht notwendig um von Antiziganismus Betroffene angemessen in ihren Rechten vertreten zu können. Eine solche Struktur würde  bestehende Lücken im Regelsystem schließen und Betroffene unterstützen, die sich nicht an staatliche Stellen wenden wollen. Denn historisch ist das Verhältnis zu staatlichen Strukturen, vor allem zu Polizeibehörden, stark vorbelastet und eng mit der Verfolgung von Sinti und Roma verknüpft. Bis heute wird die Minderheit pauschal mit Kriminalität in Verbindung gebracht und kaum als Opfer von Straftaten wahrgenommen. Vertrauen von Sinti und Roma zur Polizei kann jedoch nicht entstehen wenn Abstammung zum Ermittlungsansatz bei Kriminalität macht wird. Oft wird Sinti und Roma zumindest eine Teilschuld an dem erlebten unterstellt oder Opfer werden zu Tätern verkehrt. 

Auseinandersetzung mit Antiziganismus in der Polizei

Eine stärkere Sensibilisierung von Polizeibeamtinnen und -beamten in der Aus- und Weiterbildung muss bestehenden stereotypen Vorstellungen über die Minderheit entgegentreten und vorhandene Wissenslücken schließen. Denn bisher ist kaum etwas über die Geschichte der Minderheit im Lehrplan vorgesehen. Besonders die Verfolgung während der NS-Zeit und die Rolle der Polizei bei der Verfolgung von Sinti und Roma muss stärker in der Lehre thematisiert werden. Bisher besteht kein fundiertes Wissen bei Beamtinnen und Beamten über die Dimensionen des Antiziganismus und seine Wirkungsweisen.

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