Welche Filme fallen Ihnen ein, in denen es um Sinti und Roma geht? In welchen dieser Filme sind die Roma-Figuren Anwält*innen, Lehrer*innen oder Buchhändler*innen? Und in wie vielen der Filme spielt der Holocaust an Sinti und Roma eine Rolle?
Im europäischen wie im deutschen (Spiel-)Film gibt es wenig Raum für Geschichten, die einen differenzierten und innovativen Blick auf das Leben der größten Minderheit Europas werfen. Allzu oft werden stattdessen Klischees reproduziert, häufig durch eine Fokussierung auf Armut, Kriminalität, vermeintlich Exotisches oder ‚Außenseitertum‘. Das ist wenig überraschend, denn in Deutschland wie in Europa gehört Antiziganismus zur gesellschaftlichen und damit auch zur filmisch wiedergegebenen Normalität. Die Reproduktion von ausgrenzenden und diskriminierenden Stereotypen in Film und Fernsehen verstärkt und legitimiert den gesellschaftlichen Ausschluss einmal mehr. Eine öffentliche Auseinandersetzung mit der Diskriminierung von Sinti und Roma und den zugrundeliegenden Ideologien und Strukturen findet kaum statt. Dieses mangelnde Bewusstsein über Ausprägungen und Reichweite von Antiziganismus erschwert, dass sich die Gesellschaft, und eben auch Filmschaffende, mit dem Thema (selbst-)kritisch auseinandersetzen können.
Hier setzt diese Broschüre an: In drei Abschnitten werden antiziganistische Bilder im (Spiel-)Film, gängige Erzählmuster und die strukturellen Hindernisse für eine kritische Beschäftigung mit diesen Themen in der Filmlandschaft beleuchtet. Auf dieser Grundlage können Filmschaffende sich mit eigenen Vorurteilen, aber auch mit etablierten Darstellungsformen von Sinti und Roma im Film auseinandersetzen – ganz unabhängig davon, welche Rolle sie in der Produktion oder Veröffentlichung von Filmen einnehmen.
Hinter jedem noch so kurzen Film steckt viel Arbeit und Recherche, aber auch Finanzierungs- und Erfolgsdruck. Entsprechend viele Personen sind an der Entstehung, der Verbreitung und auch der Rezeption eines Films beteiligt. Als in hohem Maß kollektive Kunstwerke geben Filme auch Auskunft über gesellschaftlich verbreitete Einstellungen und Wissensbestände. Deshalb kann es nicht darum gehen, einzelne Filmschaffende zu kritisieren. Vielmehr soll aufgezeigt werden, wie tief verankert Antiziganismus in der Gesellschaft ist und wie er sich in Filmproduktionen niederschlägt. Das Ziel dieser Broschüre ist, Filmschaffende für dieses Thema zu sensibilisieren. Dafür werden, in Anlehnung an die Arbeit der Kulturwissenschaftlerin Radmila Mladenova, die Arbeit von Drehbuchautor*innen,
Kameraleuten, Kostümbildner*innen und Regisseur*innen genauso in den Blick genommen wie die Aufgaben von Redakteur*innen und Festival-Jurys. Anstatt Empfehlungen zu geben, schließt jeder Abschnitt mit Fragen, denn: Wir wollen keine künstlerischen Entscheidungen vorwegnehmen, sondern zur Reflexion der eigenen Arbeit einladen.
Impulse soll die Broschüre auch für die schulische wie außerschulische Bildungsarbeit geben. Wenn mit Filmen zum Thema gearbeitet wird, ist es wichtig, den eigenen Blick für die Gefahr der Reproduktion antiziganistischer Bilder auch in Filmen zu schulen. Die Empfehlungen im Anhang können außerdem dabei helfen, Filme zu finden, mit denen sich in der Bildungsarbeit überlieferte Klischees hinterfragen lassen.
Autorin: Pia Masurczak
Herausgegeben vom Bildungsforum gegen Antiziganismus des Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Zusammenarbeit mit dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma.
Diese Handreichung basiert auf den Vorträgen und Ergebnissen der Konferenz „Antiziganismus und Film“, die vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, vom Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma und von der Gesellschaft für Antiziganismusforschung im Februar 2018 in Kooperation mit der Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg und dem goEast Festival des mittel- und osteuropäischen Films veranstaltet wurde.
Die Konferenzbeiträge wurden in diesem Sammelband veröffentlicht: Mladenova, Radmila / von Borcke, Tobias / Brunssen, Pavel / End, Markus / Reuss, Anja (Hg.): Antigypsyism and Film / Antiziganismus und Film. Heidelberg: heiUP, 2020. Der Band ist über den Verlag heiUP als Open Access-Publikation im PDF- und HTML-Format kostenfrei verfügbar.