„Unsere Gräber sind die letzten Spuren“

Bemühungen um den Erhalt der Grabstellen NS-verfolgter Sinti und Roma als Familiengedächtnisstätten. Erschienen in: Jahrbuch des International Tracing Service ; 4 (2015), S.223-234. Von Jara Kehl

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma vertritt seit seiner Gründung in vielfältiger Weise die Interessen der Holocaustüberlebenden unter den Sinti und Roma in Deutschland. Mit seinem von der Bundesregierung seit 1982 geförderten Büro in Heidelberg bewirkte er für die noch lebenden Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung  eine grundlegende Änderung der früheren diskriminierenden Entschädigungspraxis und setzte bis jetzt in 3500 Einzelfällen Neuentscheidungen der Entschädigungsbehörden durch. Von Anbeginn leistete er zudem die systematische Aufarbeitung und Dokumentation des Völkermords an den Sinti und Roma[1] verbunden mit der Verfolgung noch lebender NS-Täter – dies häufig in Zusammenarbeit mit Simon Wiesenthal[2] und mit Behörden in der Bundesrepublik Deutschland, in den USA, Israel und Argentinien.

Zum Nachweis des Verfolgungsschicksals verstorbener und noch lebender NS-verfolgter Sinti und Roma greift der Zentralrat  bis heute vielfach auf das Dokumentenarchiv des International Tracing Service in Bad Arolsen zurück. Insbesondere in Fällen, in denen Überlebende – aus Angst oder Resignation – nach dem Krieg keine Anträge auf Entschädigung gestellt haben und den zuständigen Ämtern keine entsprechenden Akten vorliegen, ist das IST-Archiv in Bad Arolsen oft die einzige Quelle zur Rekonstruktion von Verfolgungsschicksalen. Gegenwärtig setzt sich der Zentralrat für den Erhalt der wenigen Grabstätten der Holocaustüberlebenden unter den Sinti und Roma ein und arbeitet dazu eng mit dem wissenschaftlichen Dienst des ITS zusammen. Der folgende Beitrag erörtert die Hintergründe dieser aktuellen politischen Initiative und illustriert das konkrete Vorgehen an Hand zweier Fallbeispiele.

Friedhöfe als Erinnerungsorte an den Holocaust

Die Erfahrung des Holocaust hat die kulturelle Identität der Minderheit der Sinti und Roma nachhaltig geprägt und wirkt sich bis heute vielfältig und generationenübergreifend auf ihr Leben aus. Dabei spielt das Gedenken an die Toten, insbesondere an die Opfer des Holocaust, in der Erinnerungskultur der Sinti und Roma eine zentrale Rolle. Der Völkermord, dem in Europa schätzungsweise eine halbe Million Angehöriger der Minderheit zum Opfer gefallen sind, wurde in Deutschland über Jahrzehnte geleugnet. Den wenigen Überlebenden wurde nicht nur die moralische Anerkennung als Opfer der nationalsozialistischen „Rassenpolitik“ verweigert, auch ihre Ansprüche auf materielle Wiedergutmachung wurden durch die erneute, kollektive Kriminalisierung und Stigmatisierung der Minderheit durch Justiz- und Widergutmachungsbehörden systematisch hintertrieben. Wippermann spricht in diesem Zusammenhang vom Trauma der „Zweiten Verfolgung“.[3] Der Leugnung des Völkermordes entsprach die Unsichtbarmachung seiner Opfer im Rahmen des offiziellen Gedenkens. Selbst an den authentischen Orten der Verfolgung, den Mahn- und Gedenkstätten für die Opfer des Holocaust, wurde der Genozid an den Sinti und Roma über lange Zeit verharmlost bzw. marginalisiert.

Vor dem Hintergrund dieser „äußeren Verdrängung“[4] des Völkermords aus dem Gedächtnis der deutschen Nachkriegsgesellschaft wurde die innerfamiliäre Erinnerung an die Verfolgung und das Gedenken an die ermordeten Angehörigen zu einem prägenden Bestandteil des Lebens und der kulturellen Identität der Minderheit. An vielen Gräbern deutscher Sinti und Roma, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges angelegt worden sind, wird auch derjenigen Familienmitglieder gedacht, die den Völkermord der Nationalsozialisten nicht überlebt haben, und für die es, da ihre Leichname in den Krematorien der Konzentrationslager verbrannt oder in anonymen Massengräbern verscharrt worden sind, keine Grabstellen gibt.[5] Durch das „Verschwindenlassen“ der Toten vernichteten die Nationalsozialisten nicht nur das Leben ihrer Opfer, sondern zielten auf die totale Nivellierung der Identität und Existenz der Ermordeten. Gomille spricht hier von der „Ver-nicht-ung im nie dagewesenen, nicht denkbaren Sinne.“[6]

Mit der Anlage von Gräbern für die „verschwundenen“ Angehörigen[7] oder der Nennung ihrer Namen auf vorhandenen Gräbern wurde diesen ihre Identität ein Stück weit zurückgegeben. Die Verstorbenen erhielten auf diese Weise zumindest eine symbolische letzte Ruhestatt und die Angehörigen einen Ort für Erinnerung und Trauer. Häufig kann man den Inschriften auf den Grabsteinen oder kleinen, separat angebrachten Gedenktafeln auch einen Hinweis auf das Verfolgungsschicksal und den gewaltsamen Tod der Angehörigen entnehmen. Eine besondere Bedeutung als Familiengedächtnisstätten haben in diesem Zusammenhang die Grabstätten derjenigen Sinti und Roma, die den Holocaust überlebt haben. Die wenigen Überlebenden verweisen im Leben und auch im Tod in besonderer Weise auf diejenigen, die den Völkermord nicht überlebt haben und halten so die Erinnerung an sie aufrecht.

Heute stehen viele dieser einzigartigen Grabmale vor der Einebnung. Anders als im Falle jüdischer Friedhöfe, die nach jüdischem Recht für die Ewigkeit angelegt werden und auf denen sich meist auch die wenigen Gräber (in Deutschland beigesetzter) jüdischer Überlebender befinden, besteht für Grabstätten NS-verfolgter Sinti und Roma, die für gewöhnlich auf den Friedhöfen ihrer jeweiligen Heimatgemeinden bestattet sind, kein „ewiges Ruherecht“. Die geltenden Friedhofsordnungen sehen nach dem Ablauf einer bestimmten Ruhezeit die Einebnung und Neubelegung von Grabstätten vor. In anderen Fällen werden Verlängerungsgebühren gefordert, die von den Betroffenen nicht getragen werden können oder es sind keine Angehörigen mehr vorhanden, die die Grabpflege leisten können. Die Gräber NS-verfolgter Sinti und Roma fallen auch nicht unter das „Gesetz über die Erhaltung der Gräber von Krieg und Gewaltherrschaft“, da Familiengrabstätten, um die es sich bei den Gräbern der Sinti und Roma fast ausnahmslos handelt, nach den Vorschriften des Gräbergesetzes grundsätzlich nicht geschützt sind.[8] Somit haben wir in Deutschland derzeit die Situation, dass Soldatengräber, zu denen auch Gräber von SS-Angehörigen zählen, zu Hunderttausenden auf ewig erhalten, die  Grabstätten der Holocaust-Opfer hingegen endgültig beseitigt werden sollen.

Politische Interventionen

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma setzt sich daher seit 2004 bei der Bundesregierung und den Ländern dafür ein, dass die schätzungsweise 3500 in Deutschland liegenden Grabstätten NS-verfolgter Sinti und Roma auf Dauer als Familiengedächtnisstätten und geschützte Gedenkorte in staatliche Obhut genommen werden. Möglich wäre dies, in dem die Gräber unter Denkmalschutz gestellt oder von den  Kommunen entsprechend den jeweiligen Friedhofsverordnungen in  Ehren- oder Dauergräber umgewandelt werden. Die Kosten dafür wären, verglichen insbesondere mit den Kosten für die Kriegsgräberpflege, für die der Bund jährlich ca. 45 Millionen Euro zur Verfügung stellt, marginal, da sie lediglich in dem Wegfall künftiger Gebühreneinnahmen bestehen würden.

Die rechtliche Grundlage für den Erhalt der Grabstätten bildet das am 22. Juli 1997 im Bundestag beschlossene „Gesetz zu dem Rahmenübereinkommen des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten“ (BT-Drucksache 13/6912).  Die Bundesregierung verpflichtete sich mit der Ratifizierung des Rahmenübereinkommens, die Bedingungen zu fördern, die es Angehörigen nationaler Minderheiten ermöglicht, „ihre Kultur zu pflegen und weiterzuentwickeln und die wesentlichen Bestandteile ihrer Identität, nämlich ihre Religion, ihre Sprache, ihre Traditionen und ihr kulturelles Erbe, zu bewahren.“[9] Die Erhaltung von Grabstätten, insbesondere jener im Nationalsozialismus verfolgter Angehöriger, als Familiengedächtnisstätten, ist durch die Erfahrung des Holocaust für die Minderheit der Sinti und Roma Teil ihrer kulturellen Identität geworden und fällt somit in den Anwendungsbereich des Rahmenübereinkommens. Mittlerweile gibt es in einigen Bundesländern (Baden-Württemberg, Bremen, Hessen, Rheinland-Pfalz und Bayern) vertragliche Vereinbarungen bzw. einen Staatsvertrag (in Bayern eine gemeinsame Erklärung) mit den jeweiligen  Landesverbänden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, die den Minderheitenschutz nach dem Rahmenübereinkommen umsetzen. In diesen wird ausdrücklich auch die Sicherstellung des Erhalts der Grabstätten als politisches Ziel vereinbart. Erforderlich sind jedoch auch hier weitere Regelungen hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung, an die sich die Kommunen halten können.

 Neben den Präsidenten des Deutschen Städtetages und des Städte- und Gemeindebundes unterstützen auch Ministerpräsidenten und verantwortliche Politiker in den Ländern ausdrücklich eine Regelung, mit der diese Grabstätten in öffentliche Obhut genommen und auf Dauer erhalten werden könnten. Auf Initiative der Bundesländer Thüringen, Bayern, Baden-Württemberg und Bremen fasste der Bundesrat am 12. Oktober 2012 einstimmig einen Beschluss zum „Dauerhaften Erhalt der Gräber der Opfer nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen“ (BR-Drucksache 543/12), von dem auch die Grabstätten NS-verfolgter Sinti und Roma erfasst sein sollen. Die Bundesregierung lehnte zwar die vom Bundesrat geforderte Lösungsmöglichkeit ab, die alleine den Bund in der (finanziellen) Verantwortung sieht, versprach aber, sich auf Länderebene für eine entsprechende Regelung einzusetzen. Wenngleich auf Grund der vertraglichen Vereinbarungen mit unseren Landesverbänden zahlreiche Kommunen betroffene Gräber inzwischen als Ehren- oder Dauergräber erhalten, bzw. unter Denkmalschutz gestellt haben, wäre es dringend erforderlich, zu einer bundesweit einheitlichen Lösung zu kommen, an der Bund, Länder und Kommunen gleichermaßen beteiligt sind und die allen Kommunen Handlungssicherheit im Falle auslaufender Grabrechte gibt. Dies umso mehr, als dass viele Städte im Falle abgelaufener Grabrechte Entscheidungen über Gebühren und die Erhaltung der Grabstätten mit Blick auf eine bundesweite Regelung vorläufig ausgesetzt haben.

Lernorte der Geschichte

Es gehört zu den allgemeinen Grundsätzen des Gräberrechts, dass Friedhofsanlagen von geschichtlichem Wert so lange als möglich erhalten und gepflegt werden.[10] Grabmale sollen von den zuständigen staatlichen Stellen geschützt werden, wenn es sich bei diesen um Denkzeichen von geschichtlicher und volkskundlicher Bedeutung handelt. Das Gräberrecht definiert dies als Aufgaben der „allgemeinen Kulturpflege“.[11] Die wenigen Gräber von Holocaustüberlebenden der Sinti und Roma sind zweifelsohne Plätze von historischer Bedeutung, die als Lernorte der Geschichte in Frage kommen. Dies ist vor Allem dort der Fall, wo mit besonderen Grabinschriften und –tafeln auf das Schicksal der Bestatteten hingewiesen wird. Ihre Erhaltung liegt insofern nicht nur im Interesse der betroffenen Familien, sondern ist von positiver, gesamtgesellschaftlicher Bedeutung. Anhand der Grabstätten werden die Schicksale von Menschen, die oft seit Generationen in ihren Heimatgemeinden lebten und dort in vielfältiger Weise als Nachbarn und Arbeitskollegen in das gesellschaftliche Leben integriert waren, sichtbar und erfahrbar gemacht. Gerade jungen Menschen kann der Besuch der Grabstätten – jenseits kognitiv anspruchsvoller Erschließungswege, wie sie beispielsweise Lehrbuchtexte darstellen – eine persönliche Annäherung an das historische Geschehen ermöglichen.

Die Grabkultur der deutschen Sinti und Roma ist Teil des deutschen Brauchtums und damit nach den Grundsätzen des Gräberrechts auch aus volkskundlicher Sicht bedeutsam und schützenswert. Die Gräber weisen häufig eine besondere Gestaltung auf, die sie von den „üblichen“ Grabstätten unterscheidet und die Ausdruck einer eigenständigen Kultur und gewachsenen Tradition sind. [12] Typisch ist eine aufwendige Gestaltung, die oft einen persönlichen Bezug zum Toten herstellt, in dem mit Gravuren oder auch kleinen Skulpturen auf den Beruf, eine bestimmte Eigenschaft oder Vorliebe des Verstorbenen hingewiesen wird. Auf den meisten Gräbern findet man zudem Mariendarstellungen in verschiedener Form. Teilweise wird am Kopfende des Grabes auch ein Marienschrein errichtet, der nicht selten in aufwendiger Handarbeit aus Holz geschnitzt und teils mit Glas geschützt ist. Recht häufig sind Fotografien (meist in Medaillon-Form) der Verstorbenen auf dem Grab zu finden. Hin und wieder werden auf dem Grabstein auch einige Wörter in der Minderheitensprache Romanes eingraviert.[13] Die Gräber sind im Allgemeinen auffällig gepflegt und nicht selten reich geschmückt. Wenn die Angehörigen nicht zu weit entfernt wohnen, werden die Gräber wöchentlich, von manchen Familien auch täglich besucht.

Spurensuche

Das Kriterium für die Gewährung eines dauerhaften Grabrechtes ist das durch die Entschädigungsbehörden oder andere amtliche Dokumente anerkannte Verfolgungsschicksal der Bestatteten als NS-Verfolgte. In dem Fall, das Grabrechte auslaufen und Angehörige den Zentralrat um Unterstützung bitten, beantragen wir bei den jeweiligen Friedhofsverwaltungen den dauerhaften Erhalt der Grabstätten als geschützte Gedenkorte. Dazu ist es notwendig, das Verfolgungsschicksal der dort beerdigten Personen im Nationalsozialismus darzulegen. Dies ist auf unterschiedliche Weise möglich. Der Zentralrat hat seit den 1980er Jahren mehrere Tausend Betroffene bei der Durchsetzung ihrer Ansprüche gegenüber den Entschädigungsbehörden der Länder und des Bundes sowie gegenüber den Landes- und Verwaltungsgerichten vertreten. Dazu mussten in den meisten Fällen frühere Akten der Behörden aufgearbeitet und in Zweitverfahren neu bewertet werden. In solchen Fällen kann der Nachweis des Verfolgungsschicksals direkt erbracht werden. Lag  die Vertretung nicht beim Zentralrat oder einem seiner Landesverbände, ist es in Absprache mit den Angehörigen möglich, bei der Bundeszentralkartei eine Anfrage zu machen, ob entsprechende Akten vorliegen. Da hier auf zirka zwei Millionen Karteikarten Antragsteller aus allen Entschädigungsbehörden der Bundesrepublik erfasst sind, führt dies meist zum Erfolg.

Es gibt jedoch auch Fälle, in denen Überlebende – aus Angst oder Resignation – nach dem Krieg keine Anträge auf Entschädigung gestellt haben und den jeweiligen Behörden entsprechend keine Akten vorliegen. Viele Sinti und Roma waren nach der jahrelangen Verfolgung durch deutsche Behörden nur zögernd, wenn überhaupt, bereit, dem Roten Kreuz und anderen Institutionen persönliche Daten zur Durchsetzung ihrer Entschädigungsansprüche mitzuteilen.[14] In solchen Fällen ist das Archiv des Internationalen Suchdienstes oft die einzige Quelle, um das Verfolgungsschicksal der Betroffenen zu rekonstruieren. Oft geben hier Informationen der noch lebenden Angehörigen wichtige Anhaltspunkte für die Recherche. Anhand zweier Fallbeispiele möchte ich im Folgenden das typische Vorgehen bei der Rekonstruktion eines Verfolgungschicksals schildern.

Im Herbst 2013 erreichte uns ein Schreiben des Magistrats der Universitätsstadt Marburg, in dem wir darüber informiert wurden, dass die Stadt – unabhängig von einer noch ausstehenden bundesweiten Regelung – die Grabstätten NS-verfolgter Sinti und Roma dauerhaft als öffentliche Gedenkorte erhalten wolle. Marburg folgte mit dieser lokalen Initiative dem Beispiel der hessischen Stadt Hanau, die als erste Stadt bundesweit ihre Friedhofssatzung entsprechend geändert hatte. Hierfür bat uns der Magistrat um die Bestätigung der Verfolgteneigenschaft der in Marburg bestatteten, vor dem 8. Mai 1945 geborenen Sinti und Roma. Der Zentralrat hatte im Jahr 2009 innerhalb der deutschen Sinti und Roma eine nach Bundesländern aufgeschlüsselte Erhebung durchgeführt, um zu ermitteln, wer die Grabstätten von im Nationalsozialismus verfolgten  Angehörigen pflegt. Mit der Umfrage wurden schätzungsweise 70-75% aller in Frage kommenden Grabstellen im ganzen Bundesgebiet erfasst. In Marburg wurden demnach  insgesamt 29 Personen bestattet, viele von ihnen in mehrstelligen Familiengräbern.

Für sechzehn der Verstorbenen konnten wir das Verfolgungsschicksal relativ einfach über unser Heidelberger Archiv, bzw. mit der Hilfe des Regierungspräsidiums Darmstadt, der Entschädigungsbehörde Hessens, belegen. Die Namen zweier weiterer Personen fanden sich im Gedenkbuch des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau. Für die verbliebenen elf Personen war offenbar nie ein Antrag auf Entschädigung gestellt worden. Wir wendeten uns daher an den ITS, in der Hoffnung, auf diesem Wege Hinweise zur Inhaftierung der Betroffenen in Konzentrationslagern und Ghettos oder zur Zwangsarbeit zu erlangen. In drei Fällen war dies erfolgreich. Der ITS übermittelte uns in zwei Fällen Auszüge aus alten Korrespondenzakten aus dem Jahr 1950 zwischen dem Internationalen Suchdienst und dem Bayrischen Hilfswerk für die durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen, aus dem die Inhaftierung der Betroffenen in verschiedenen Ghettos und Konzentrationslagern hervorging. In einem weiteren Fall gaben Einträge in eine Krankenakte und Vermerke der Poststelle des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof Hinweise auf die Inhaftierung.

 Für acht der in Marburg bestatteten Sinti und Roma war es nicht mehr möglich, das Verfolgungsschicksal nachzuvollziehen. In solchen Fällen  können unterschiedliche Gründe eine Rolle spielen: Wenn Menschen die nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen durch Flucht und ein Leben in der Illegalität überlebt haben, lässt sich das in der Regel nicht durch Dokumente belegen. Eine weitere Ursache ist, dass zahlreiche Akten der Gestapo oder anderer NS-Organisationen durch Kriegseinwirkungen und systematische Aktenvernichtung bei Kriegsende zerstört wurden. Da jedoch  eine systematische Erfassung der Angehörigen der Minderheit durch die 1936 in Berlin gegründete  Rassenhygienische Forschungsstelle am Reichsgesundheitsamt und das Reichssicherheitshauptamt in Berlin zur Vorbereitung der späteren Deportation und Vernichtung der Sinti und Roma durchgeführt wurde, ist davon auszugehen, dass die Verfolgungsmaßnahmen alle Angehörigen der Minderheit ausnahmslos betroffen haben, gleichgültig, ob sie inhaftiert und deportiert wurden oder sich durch Flucht der Verhaftung entziehen konnten.[15]

Das zweite Fallbeispiel datiert auf den Anfang des Jahres 2014, als wir einen Anruf aus den Niederlanden erhielten. Frau Henriette M. kontaktierte uns, weil das Grabnutzungsrecht an der Grabstelle ihrer Eltern, die beide Überlebende des Holocaust waren, auf einem Düsseldorfer Friedhof ausgelaufen war. Frau M., die das Grab trotz des weit entfernten Wohnsitzes regelmäßig pflegte, wollte dieses unter allen Umständen erhalten. Um bei der Friedhofsverwaltung in Düsseldorf einen entsprechenden Antrag auf Erhalt der Grabstelle zu stellen, war es notwendig, das Verfolgungsschicksal der Familie zu dokumentieren. Frau M. meinte sich zu erinnern, dass ihre Eltern nach dem Krieg nie einen Antrag auf Entschädigung gestellt haben. Ihren Informationen zu Folge war ihre Großmutter mütterlicherseits nach Auschwitz deportiert und dort ermordet worden. Ihre Eltern waren mit ihren beiden älteren Geschwistern auf der Flucht gewesen und so der Deportation entgangen. Bevollmächtigt durch Frau M. machten wir in einem ersten Schritt eine Anfrage bei der Bundeszentralkartei in Düsseldorf, ob und gegebenenfalls welche Entschädigungsverfahren im Zusammenhang mit der Verfolgung ihrer Eltern eingeleitet worden waren. Diese Anfrage brachte kein Ergebnis. Wir wendeten uns daher an den ITS. In Bad Arolsen existierten zwar keine Unterlagen zu den Eltern der Frau M., es fanden sich jedoch Dokumente, die die Deportation der Großmutter Henriette M. nach Auschwitz belegten und damit Frau M.s Informationen bestätigten.

Die Dokumente aus Arolsen waren auch aus einem anderen Grund aufschlussreich: Der Familienname M. tauchte hier teilweise in einer anderen Schreibweise auf. Wir stellten daher erneut eine Anfrage bei der Bundeszentralkartei, diesmal mit der geänderten Schreibweise, und waren erfolgreich. Unter dem Namen der in Düsseldorf beerdigten Mutter von Frau M. existierten Akten zu einem positiv entschiedenen Entschädigungsverfahren, die wir aus München anforderten. Diesem konnten wir entnehmen, dass Frau M.s Eltern, Rosa und Eduard M.,  im Winter 1943, kurz nach der Deportation der Großmutter nach Auschwitz, mit ihren beiden Töchtern Anna und Charlotte zusammen mit anderen Sinti-Familien aus ihrer damaligen Heimatstadt Mühlheim geflohen waren und bis 1945 in der Illegalität in Österreich und dem ehemaligen Jugoslawien unter widrigsten Bedingungen überlebten. Die Grabstelle wird von der Stadt Düsseldorf mit Blick auf eine bundesweite Regelung erst einmal erhalten.

Ausblick

Die Grabstätten der Holocaust-Überlebenden Sinti und Roma sind die stummen Zeugen einer in Deutschland lange verdrängten Geschichte. Sie erinnern an den „vergessenen Holocaust“[16] und waren über eine lange  Zeit, in der der Völkermord an den Sinti und Roma aus dem offiziellen Gedenken verdrängt wurde, die einzigen Orte, an denen das Verfolgungsschicksal der Sinti und Roma im öffentlichen Raum sichtbar war bzw. gemacht wurde – von den Verfolgten selbst.

Das Abräumen der Grabstätten würde die letzten sichtbaren Spuren derjenigen auslöschen, die den Holocaust überlebt haben und all jener, von denen es keine Spuren mehr gibt und auch kein Grab. Kommunale Initiativen und Bemühungen auf Länderebene zum Erhalt dieser Erinnerungsorte der Geschichte sind daher sehr zu begrüßen. Wichtig wäre jedoch, dass jetzt auch der Bund Verantwortung übernimmt und es zu einer bundesweit verbindlichen  Regelung zum Erhalt dieser einzigartigen Grabmale kommt.

 

[1] Seit 1997 wird diese Aufgabe primär von der Facheinrichtung des Zentralrats, dem Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg  wahrgenommen.

[2] Simon Wiesenthal war Gründer und Leiter des  Dokumentationszentrums des Bundes Jüdischer Verfolgter des Naziregimes in Wien.

[3] Wippermann, Wolfgang: Wider die Gutmachung. Für die Sinti und Roma gehörte die „zweite Verfolgung“ zu den Kriegsfolgen. In: ami 26 / 3, 1996, S. 73 – 77.

[4] Peritore, Silvio: Zweite Generation – die Erfahrung des Holocaust als negative Identitätsprägung in den betroffenen Familien. In: Dokumentation Fachtagung – Fachtagung zum Thema „Zweite Generation“ am 01. März 2011 in Köln. Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte e.V. Köln 2011, S. 26.

[5] Nur in wenigen Fällen und nur in der Anfangszeit der Verfolgungsmaßnahmen, wurde zur Aufrechterhaltung einer scheinbaren „Normalität“ den Familien der Ermordeten die Asche ihrer Angehörigen aus den Vernichtungslagern – per Nachnahme – in Urnen übersandt und konnte von diesen in Gräbern beigesetzt werden. Im baden-württembergischen Burladingen wurde ein solches Grab auf Initiative des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma unlängst unter Denkmalschutz gestellt. Die denkmalschutzrechtliche Überprüfung eines weiteren Grabes auf dem Magdeburger Hauptfriedhof, in dem drei Urnen aus den Konzentrationslagern Auschwitz und Mauthausen beigesetzt sind, wurde eingeleitet.

[6] Gomille, Dorothee: Den Holocaust erzählen. Untersuchungen zum erinnernden Schreiben in Giorgio Bassanis Romanzo di Ferrara. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br., S. 124. Abrufbar unter: http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/8568/pdf/Diss_DGomille.pdf  letzter Aufruf: 08.11.2014

[7] Uns sind Grabstellen bekannt, die ausschließlich zum Gedenken an die ermordeten Angehörigen angelegt worden sind, in denen also keine Bestattungen stattgefunden haben.

[8] Nach dem „Gräbergesetz“ werden neben den Soldatengräbern aus dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg auch die Gräber aller bis Ende März 1952 verstorben Opfer Nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen erhalten. Davon sind jedoch Grabstätten ausgenommen, in denen mehr als eine Person bestattet ist (Familiengräber) und auch solche, die von Angehörigen der Verstorbenen gepflegt werden. Da es sich bei den Gräbern der Sinti und Roma fast ausschließlich um von den Angehörigen gepflegte Familiengräber handelt, waren nahezu alle Überlebenden, die bis 1952 umgekommen waren, von dem Schutzbereich des Gräbergesetzes ausgeschlossen.

[9] http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/13/069/1306912.asc, letzter Aufruf: 09.11.2014

[10] Gaedke, Jürgen/Diefenbach, Joachim: Handbuch des Friedhofs- und Bestattungsrechts, Köln 2010, S. 56, Rdn. 14 ff.

[11] Ebd., S. 57 Rdn. 15 . Vergleiche auch: Ebd. S. 209, Rdn. 55.

[12] Die Erfahrung des Holocaust bewegt viele Angehörige der deutschen Sinti und Roma bis heute dazu , ihre Minderheitenzugehörigkeit zu verbergen, was sich auch auf die Grabgestaltung auswirken kann, die dann möglichst „unauffällig“ ist, sich also hinsichtlich der Gestaltung möglichst nicht von den übrigen Grabstellen unterscheidet.

[13] Das Romanes der deutschen Sinti und Roma steht unter dem Schutz der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen und wird von den etwa 70.000 deutschen Sinti und Roma neben Deutsch als zweite Muttersprache gesprochen.

[14] Vgl.: Puxon, Grattan: Verschleppte Wiedergutmachung. In: Zülch, Tilman (Hg.): In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt: Zur Situation der Roma (Zigeuner) in Deutschland und Europa. Reinbek, Rowohlt, 1979, S. 151 und Rose, Romani & Weiss, Walter. Sinti und Roma im „Dritten Reich“: Das Programm zur Vernichtung durch Arbeit. Hg. vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. Göttingen 1991.

[15] Vgl. hierzu: Fings, Karola: Die „gutachtlichen Äußerungen“ der Rassenhygienischen Forschungsstelle und ihr Einfluss auf die nationalsozialistische Zigeunerpolitik. In: Zimmermann, Michael (Hg.): Zwischen Erziehung und Vernichtung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2007, S. 425-459 und Fings, Karola: „Rasse: Zigeuner“. Sinti und Roma im Fadenkreuz von Kriminologie und Rassenhygiene 1933-1945. In: Uerlings, Herbert / Patrut, Iulia-Karin (Hg.): ›Zigeuner‹ und Nation. Repräsentation – Inklusion – Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Band 8. Frankfurt am Main u. a. 2008, S. 273-309                                                                                                               

[16] Diese Formulierung verwendete Zoni Weisz bei seiner Ansprache im Deutschen Bundestag anlässlich desTags des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ am 27. Januar 2011. Die Rede ist im Wortlaut unter folgendem Link abzurufen: http://www.bundestag.de/rede, letzter Aufruf: 08.11.2014.

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