Anerkennung und Bekämpfung von Antiziganismus

Auf politischer Ebene in Deutschland und Europa

Für die Jahre 2017-2018 hat der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma in Zusammenarbeit mit der Open Society Stiftung ein Projekt ins Leben gerufen zur Anerkennung und Bekämpfung von Antiziganismus auf politischer Ebene in Deutschland und Europa, um damit die Ursachen und Auswirkungen des Rassismus zu thematisieren, welche zur Stigmatisierung und Ausgrenzung von Sinti und Roma führen. (Projekttitel: Advocating the German Foreign and Development and Cooperation Policy with regard to Roma and Antigypsyism).

Das Projekt verfolgt das Ziel, dass Deutschland auf nationaler wie gesamteuropäischer Ebene mehr Verantwortung bei der Bekämpfung des Antiziganismus übernimmt und das Engagement zur Bekämpfung von Fluchtursachen und zur Stärkung der gesellschaftlichen Teilhabe von Roma im Westbalkan stärkt.

 

1. Bekämpfung von Antiziganismus in Deutschland und in Europa

Was ist Antiziganismus?
Antiziganismus ist eine spezielle Form des Rassismus und ein ideologisches Konstrukt, welches sich unter anderem in der kumulativen und systematischen Diskriminierung von Sinti, Roma und anderen Gruppen, die als „Zigeuner“ oder „Gypsies“ stigmatisiert werden, ausdrückt. Es ist die Grundlage für Gewalt, Hassreden und die gesellschaftliche Ausgrenzung und Benachteiligung der Minderheit in ganz Europa. Meist werden die Dimension und die Wirkmächtigkeit des Antiziganismus nicht von Politik und Gesellschaft anerkannt und es mangelt an öffentlicher Gegenrede und konkreten Handlungsstrategien.

Wie kann Antiziganismus bekämpft werden?
Immer noch sind es überwiegend die Angehörigen der Minderheit und ihre Selbstorganisationen, die sich mit dem Phänomen auseinandersetzen und dessen Bekämpfung einfordern. Doch es muss sowohl die Politik als auch die breite Zivilgesellschaft Verantwortung dafür übernehmen und sich gegen Antiziganismus klar positionieren. Es ist die Aufgabe von Politik und Gesellschaft Konzepte zu entwickeln, um Antiziganismus genauso entschieden entgegenzutreten wie etwa dem Antisemitismus.

Im gesellschaftlichen und politischen Diskurs wird meist über Integration von Roma gesprochen und davon ausgegangen, dass es bei Roma ein Defizit gäbe, welches nur ausgeglichen werden müsste. Doch damit wird das Grundproblem verkannt: die Wirkmächtigkeit der Mechanismen des Antiziganismus. Die deutsche Politik wie auch die Mehrheitsgesellschaft muss die Verantwortung übernehmen, um dem historisch gewachsenen und tief verwurzelten Antiziganismus entgegenzutreten. Es muss ein Problembewusstsein geschaffen werden, das die Gefahren für den gesellschaftlichen Zusammenhalt unserer demokratischen Gesellschaften erkennt und daraus die Notwendigkeit ableitet diese spezifische Form des Rassismus systematisch und auf allen Ebenen zu bekämpfen.

Was sind die Projektziele des Zentralrats?
Das Projekt hat es sich zum Ziel gesetzt das Problembewusstsein für Antiziganismus von politischen Entscheidungsträgern auf deutscher und europäischer Ebene zu schärfen. Antiziganismus muss als eigentliche Ursache für die soziale und gesellschaftliche Exklusion von Sinti und Roma anerkannt werden. Den Versäumnissen der deutschen und europäischen Politik in dieser Frage ist es geschuldet, dass die reale Lebenssituation von Roma in ganz Europa in den letzten Jahrzehnten unerträglich geworden ist. Zunehmender Nationalismus, Populismus und Sozialchauvinismus verschärfen die Lage zusätzlich. Physische und staatliche Gewalt, bittere Armut, gesellschaftliche Stigmatisierung und Marginalisierung führen dazu, dass die Angehörigen der Minderheit ihre Herkunftsländer verlassen und in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern Zuflucht und ein Auskommen suchen. Allzu oft werden die Gründe für Flucht und Migration von Roma aus Ost- und Südosteuropa jedoch verkannt. Die Absichten der Menschen werden von Politik und Medien diskreditiert und antiziganistische Vorurteile geschürt. Auch hier möchte der Zentralrat im Rahmen des Projektes Advocacy-Arbeit bei Entscheidungsträgern in Deutschland und der EU leisten.

Warum ist die Rolle Deutschlands im Kampf gegen Antiziganismus besonders?
Deutschland muss und kann, nicht zuletzt aus seiner historischen Verantwortung heraus, eine entscheidende Rolle im Kampf gegen Antiziganismus übernehmen. Dabei darf es nicht nur bei Lippenbekenntnissen bleiben. Der Zentralrat hat es sich zur Aufgabe gemacht zusammen mit seinen Partnern in Politik und Zivilgesellschaft einen Kurswechsel in der aktuellen EU-Politik hinsichtlich Antiziganismus und Roma voranzubringen. Deutschland sollte im Engagement gegen Antiziganismus nicht nur auf nationaler Ebene mit gutem Beispiel vorangehen, sondern auch andere europäische Staaten für eine umfassende Auseinandersetzung damit gewinnen.

Ein konkretes Ziel des Zentralrats auf nationaler Ebene ist die Einrichtung einer Expertenkommission zum Thema Antiziganismus im Bundestag, wofür es auch eine wachsende Zahl an Unterstützern im Deutschen Bundestag gibt. Auf europäischer Ebene fördert der Zentralrat die Einrichtung einer Parlamentarischen Koalition gegen Antiziganismus, welche Antiziganismus auf allen politischen Ebenen ächtet und für die Verantwortungsübernahme der politischen Entscheidungsträger eintritt.

 

 2. Roma in den Staaten des Westlichen Balkan

Antiziganismus als Fluchtursache und die Auswirkungen auf Roma im Westbalkan
Die Roma in allen Ländern des Westlichen Balkans sehen sich Antiziganismus und daraus resultierender kumulativer Diskriminierung und gesellschaftlicher Ausgrenzung gegenüber. Die verfügbaren Daten über ihre sozio-ökonomische Lage zeichnen ein erschütterndes Bild und zeigen auch, dass sich in den letzten zwei Jahrzehnten ihre Lage kaum verbessert hat.

Der Zentralrat ist überzeugt, dass solange die eigentlichen Ursachen für die Lage der Roma in den Ländern des Westlichen Balkans – der Antiziganismus und die daraus resultierende Diskriminierung nicht angegangen werden, sich auch weiterhin wenig an der tatsächlichen Lage der Roma ändern wird. Denn es sind Antiziganismus und die daraus resultierende Diskriminierung, welche hauptsächlich die Lage der Roma auf den Arbeitsmarkt oder im Schulwesen bestimmen.

Nicht zuletzt die Tatsache, dass zwischen 2008 und 2015 ca. 200.000 Roma aus dem Westlichen Balkan in EU Mitgliedstaaten – und hierbei v.a. in Deutschland – um Asyl angesucht haben, verdeutlicht die Dimension der Diskriminierung der Roma im Westlichen Balkans.

Aktivitäten des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma mit Bezug auf den Westlichen Balkan
Der Zentralrat hat sich daher entschlossen, am Beispiel Serbiens, an einer Veränderung der deutschen Politik mit Bezug auf Roma mitzuwirken. In enger Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen der Roma in Serbien und den verantwortlichen Stellen in Deutschland, v.a. dem Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ), wurden zuerst die Grundlagen für eine effektive und umfassende Handlungsstrategie erarbeitet.

Anfang 2016 wurde eine Bestandsaufnahme der deutschen Aktivitäten mit Bezug auf Roma in den Ländern des Westlichen Balkans erstellt und gemeinsam mit dem BMZ wurde in Berlin ein Fachgespräch mit deutschen Organisationen, die vor Ort mit Roma arbeiten, durchgeführt.

Seit Herbst 2016 wurden in mehreren Treffen mit zivilgesellschaftlichen Vertretern der Roma in Serbien und mit dem Nationalrat der Roma in Serbien, eine gemeinsame Strategie beschlossen und politische Handlungsempfehlungen entwickelt, die zu einer Verbesserung der Lage der Roma führen sollen.

Im Rahmen dieses Projektes will der Zentralrat seine umfassende Expertise im Bereich der Bekämpfung des Antiziganismus den verantwortlichen deutschen Stellen zur Verfügung stellen und den Dialog zwischen den zivilgesellschaftlichen Vertretern der Roma in Serbien und der deutschen Politik stärken.

Erwartungen des Zentralrates an die deutsche Bundesregierung
In einem ersten Schritt muss die deutsche Bundesregierung bzw. die deutsche Politik die Existenz des Antiziganismus und die Notwendigkeit, diesen zu bekämpfen, anerkennen und dementsprechende Handlungsstrategien entwickeln. Dies erforderte ein programmatisches, längerfristiges und nachhaltiges Konzept, das in Abstimmung mit der serbischen Regierung und der Zivilgesellschaft entwickelt werden muss. Besonders wichtig ist, dass Strukturen geschaffen werden, welche die Verantwortung des serbischen Staates und der Behörden auf lokaler Ebene fördern.

Neben der allgemeinen und strukturellen Bekämpfung des Antiziganismus, muss auch die daraus resultierende Diskriminierung in den Bereichen Schule und Ausbildung, Wohnungsmarkt, Arbeitsmarkt, Gesundheitswesen und dem Zugang zu Dienstleistungen thematisiert werden unter besonderer Berücksichtigung von Rückkehrern in allen Bereichen. Zudem sollen Maßnahmen ergriffen werden, die Roma in ihren jeweiligen Ländern ein gleichberechtigtes Leben und eine gesellschaftliche Partizipation garantieren.

Der Zentralrat ist sich bewusst, dass das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung plant, sich verstärkt für Roma in Serbien zu engagieren. Doch der Zentralrat erwartet von der deutschen Bundesregierung, dass nach einer Pilotphase in Serbien, das verstärkte Engagement auch die anderen Staaten im Westlichen Balkan umfassen wird.

 

 

 

 

 

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