Mehr Forschung zu „Protestantismus und Antiziganismus“ ist notwendig

Antiziganistische Tendenzen in der evangelischen Kirchengeschichte und das Verhältnis der evangelischen Kirche zu Sinti und Roma – in der wissenschaftlichen Aufarbeitung dieses Themenkomplexes gibt es viele Leerstellen, die es dringend zu schließen gilt. So lautet das Fazit der Tagung „Protestantismus und Antiziganismus“, die am 20. September 2017 von der Evangelischen Akademie zu Berlin gemeinsam mit dem Zentralrat der Sinti und Roma und der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus durchgeführt wurde. Im Mittelpunkt der Tagung stand die Präsentation des vom Zentralrat in Auftrag gegebenen Gutachtens „Protestantismus und Antiziganismus“ der Historikerin Verena Meier.

„Die Rolle von Kirchen – insbesondere der evangelischen Kirchen und ihrer Vertreterinnen und Vertreter – stellt ein großes Desiderat in der Antiziganismus- und kirchengeschichtlichen Forschung dar“, sagte Meier. „Besonders interessant wäre es, wenn vergleichende Studien aufzeigen könnten, welche Ausprägungen von Antiziganismus es unter Protestantinnen und Protestanten gab und wie antiziganistische Denkmuster über verschiedene Epochen hinweg tradiert wurden und welche praktischen Konsequenzen dies für die Minderheit hatte.“

Der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, betonte die besondere Verantwortung der christlichen Kirchen und wies auf die lange Tradition bösartiger „Zigeuner“-Stereotype hin, die vom Kinderraub bis zum Spionagevorwurf reichten und sich bereits in den Schriften Luthers finden ließen.

Selbstkritisch äußerte sich Prälat Dr. Martin Dutzmann als Vertreter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD): „Im Jahr des 500. Jubiläums der Reformation schmerzt es besonders zu erfahren, dass Martin Luther die Feindschaft gegen Sinti und Roma theologisch rechtfertigte und dass viele Protestanten ihm darin folgten“, so der Bevollmächtigte des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union. Antiziganistische, rassistische Bilder und Einstellungen dürften keinen Platz in den Herzen und Köpfen der Menschen haben.

Romani Rose richtete besonderes Augenmerk auch auf die bislang ausstehende Erforschung der Mithilfe der protestantischen Kirche bei der Vorbereitung des NS-Völkermords an den Sinti und Roma. „Wie wir wissen, stellten Kirchenvertreter den nationalsozialistischen Rasseforschern kirchliche Unterlagen wie Taufbücher zur Verfügung. Dies trug dazu bei, unsere Menschen als ‚Zigeuner‘ oder ‚Zigeunermischlinge‘ rassenbiologisch zu erfassen, was meist einem Todesurteil gleichkam“.

In diesem Sinne ist der Fachtag als Auftakt für einen Prozess zu sehen, gerade in Zeiten wieder aufkeimender nationalistischer und rassistischer Bewegungen in Deutschland und Europa deutliche Zeichen zu setzen für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Hierfür erhoffen sich die Teilnehmer des Fachtages nicht nur Ressourcen, um möglichst interdisziplinäre Forschungen voran zu bringen, sondern vor allem Engagement aus dem Kreis des breit gefächerten institutionellen und wissenschaftlichen Netzwerkes der Evangelischen Kirche selbst.

Die Pressemitteilung wird gemeinsam von der Evangelischen Akademie zu Berlin und dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma versandt. Doppelungen bitten wir zu entschuldigen

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